Predigt zum 6. Sonntag im Jahreskreis (Mt 5,17-37)

Auf das Herz kommt es an

in der jüdischen Tradition gibt es den so genannten Zaddik, zu deutsch der „Rechtschaffene“, der „Gerechte“. Ein Zaddik ist jene Person, die mehr tut, als die Gesetze und Gebote verlangen, weil er weiß, dass es nicht bloß um die äußeren Handlungen geht, sondern auch schon um die innere Haltung, die Einstellung, die Motivation.

Einer jüdischen Legende nach soll es in der Welt stets 36 Gerechte geben, um deretwillen Gott die Welt nicht untergehen lässt. Niemand weiß, wer diese Gerechten sind, sie leben im Verborgenen und gehen ganz unterschiedlichen Tätigkeiten nach, stirbt einer, wird gleich darauf ein neuer Gerechter geboren und die Welt versinkt nicht im Chaos.

Im heutigen Evangelium sagt uns Jesus: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Die Schriftgelehrten und Pharisäer sind jene, die die Gebote und Gesetze, die Gott dem Volk Israel durch die Bibel gegeben hat, am besten kennen und auch einhalten. Aber das bedeutet nicht, dass sie auch Zaddik sind, also Rechtschaffene oder Gerechte, weil es eben nicht bloß um äußere Handlungen geht, sondern auch um die rechte innere Haltung. Jesus verlangt nun in seiner programmatischen Bergpredigt von seinen Jüngerinnen und Jüngern genau das: Seid „Gerechte“ in dieser Welt, tut mehr, als von euch vom Gesetz her verlangt wird.

Er nennt dazu drei Beispiele: den Mord, den Ehebruch und den Meineid. Es sind drei schwere Verbrechen, für die man zur damaligen Zeit mit dem Tod bestraft wurde. Jesus macht nun darauf aufmerksam, dass dem wirklich Rechtschaffenen und Gerechten bewusst ist, dass die wahre Gerechtigkeit schon viel früher beginnt: Der böswillige Zorn, das Begehren und das Schwören selbst soll unterlassen werden. Und er tut dies mit göttlicher Vollmacht. „Ich aber sage euch …“ – das ist der Anspruch, mit dem Jesus auftritt. Jetzt, so seine Überzeugung, ist das Himmelreich angebrochen, das Reich Gottes, in dem weit mehr geschieht, als die Gesetze und Gebote es vorschreiben. Jetzt geht es nicht mehr nur um äußere Handlungen, jetzt geht es um das Herz, die Seele, die Haltung, die Einstellung, das Motiv und die Gedanken.

An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert. Es geht immer noch um dieses „Mehr“, das Jesus auf durchaus provokante Art und Weise einfordert. Der äußere Schein ist nicht alles. Habt daher auch das im Blick, was hinter den Kulissen, in euren Herzen und Gedanken geschieht. Das kann schlimmere Folgen nach sich ziehen als ein Mord, ein Ehebruch oder eine Lüge zum eigenen Vorteil.

„Nie habe ich das Vorgehen jener billigen können,“ meint daher auch der heilige Franz von Sales, „die bei Äußerlichkeiten beginnen … Mir scheint im Gegenteil, man muss beim inneren Menschen anfangen. ‚Bekehre dich zu mir‘, spricht Gott, ‚von ganzem Herzen!‘ … Weil das Herz die Quelle unserer Handlungen ist, werden diese so sein, wie unser Herz beschaffen ist“ (DASal 1,163-164).

Das Herz ist die Quelle unserer Handlungen … Genau darauf will Jesus aufmerksam machen und er möchte, dass alle, die ihm folgen, ebenso auf ihr Inneres achten, damit das Reich Gottes in der Welt wirksam werden kann: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist,“ wenn ihr nicht beim Herzen anfangt, dann wird das nicht geschehen. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS