Tenui Nec Dimittam

„Ich habe ihn gepackt und lasse nicht mehr los“ (Hld 3,4)

Der Wappenspruch der Sales-Oblaten lautet „Tenui nec dimittam“ – „Ich habe ihn gepackt und lasse nicht mehr los“. Er stammt aus dem Hohelied des Alten Testamentes (3. Kapitel, 4. Vers) und wurde vom heiligen Franz von Sales gerne zitiert. Ein Beispiel von vielen:

„So strebt das Menschenherz durch seine natürliche Neigung auf seinen Gott hin, ohne aber recht zu wissen, wie er ist. Findet es ihn aber am Born des Glaubens und sieht ihn so gut, so schön, so lieb und gütig gegen alle, so bereit, sich als höchstes Gut allen hinzugeben, die es wollen, – o Gott, welche Freude, welch heiliges Verlangen, sich auf ewig im Geist mit dieser unvergleichlich liebenswürdigen Güte zu vereinigen! ‚Ich fand endlich, den ich suchte,‘ spricht die ergriffene Seele, ‚und wie beglückt bin ich nun!‘ (Hld 3,4).“ (DASal 3,138f).

Heute könnte dieser Wappenspruch folgendermaßen interpretiert werden:

„Ich“

In einer Welt voller Individualismus und Egoismus baue ich dennoch auf das „Ich“. Es ist das „Ich“, das sich festlegt, es ist das „Ich“, das jemanden packt, es ist das „Ich“, das nicht mehr los lässt. Gott, der Person ist, der „Ich bin, der ich bin da“, erwartet die Antwort einer Person: „Ich habe ihn gepackt und lasse nicht mehr los“. Der Oblate gibt diese Antwort. Ich lege mich als Oblate des hl. Franz von Sales fest, es ist meine Entscheidung. Unsere gemeinsamen Verpflichtungen erfordern individuelle Entscheidungen und persönliche Beziehungen mit Gott. Gemeinschaft lebt von einer Gruppe von entschiedenen Menschen, die etwas wollen, die bereit und fähig sind, sich individuell zu entscheiden. Ich verstecke mich nicht hinter einer Gemeinschaft, ich folge nicht der Masse, oder warte, bis andere etwas unternehmen. Ich bin gerufen, ich antworte! Das „Ich“ im Leitwort der Oblaten verlangt genau danach. Es hängt von mir ab und von meiner Beziehung zu Gott.

„… habe ihn gepackt“

Das Perfekt wird bei vergangenen Ereignissen dann verwendet, wenn wir mehr an ihre Wirkung für die Gegenwart als an das Ereignis selbst denken. Oblaten leben im Hier und Heute. Ich hatte eine Gotteserfahrung. Ich habe seine Liebe zu mir entdeckt. Ich habe nicht nur mit dem Kopf, sondern aus ganzem Herzen nach dem lebensrettenden Seil gegriffen, das Gott mir im Meer des Lebens zugeworfen hat. Ich habe es erlebt und ich habe es gepackt. Jetzt aber kommt es darauf an, dass ich mit Ihm verbunden bin. Das Wort „Packen“ drückt Kraft und Vertrauen aus. Ich habe das Seil gepackt, das lebensrettende Seil, nicht mit meinen Händen, sondern mit meinem Herzen. Ich hänge an ihm mit meinem Herzen. Meine Hände sind frei, dementsprechend zu arbeiten, verbunden mit Gott, für Gott und für seine Projekte. Das Herz Gottes und mein Herz sind durch seine Liebe zu mir fest verbunden, aber auch, weil ich diese Liebe erfahren habe und weil ich nun darauf antworte.

„und lasse nicht mehr los!“

Erfahrung verlangt nach einem Entschluss. Was ich erfahren habe, kann in meinem Leben nicht ohne Folgen bleiben. Sobald das Herz voll ist, fängt es zum Überlaufen an, reichlich, aufrichtig, stark und bedingungslos. Der Entschluss, nicht mehr loszulassen, klingt nicht sehr psychologisch. Wie oft muss ich Dinge loslassen? Ich kann alles loslassen, nicht aber Ihn, Gott, seine Liebe. Ihn nicht loslassen bedeutet Verfügbarkeit für jeden anderen, für alles andere. Seine Liebe schränkt nicht ein, sie weitet – das ist das Geheimnis des Oblatenlebens. Die Entscheidung, sich an Ihn festzuklammern, befreit mich. Ich werde verfügbar, ich kann mich hingeben, aufopfern, ich werde ein Oblate (offere = opfern), und ich lebe. Ich habe ihn gepackt und ich lasse nicht mehr los. Niemals.

P. Sebastian Leitner OSFS