Predigt zum 22. Sonntag im Jahreskreis (Mt 16,21-27)

Die vierte Versuchung

Zunächst ein kleiner Rückblick: vor seinem ersten öffentlichen Auftreten wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt und vom Teufel versucht. Drei Versuchungen musste er dort standhalten: Der Versuchung zur Macht, zum Reichtum und zur Herrschaft über Leben und Tod. Jesus hat dem Teufel widerstanden, in dem er ihm klarmachte, dass allein Gott es ist, vor dem man sich niederwerfen und dem man dienen soll.

Die Stelle aus dem Evangelium, die wir heute gehört haben, beschreibt die vierte Versuchung Jesu und angesichts der scharfen Worte, die Jesus gegen sie gebraucht, ist sie wahrscheinlich die größte Versuchung, gegen die Jesus Widerstand leisten musste. Worin besteht diese Versuchung? Es ist die Versuchung, im Leben nicht leiden zu müssen. Jesus spricht das erste Mal davon, dass er „vieles erleiden“ muss. Und Petrus sagt darauf: „Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen.“ Und Jesus reagiert darauf ungeheuer scharf: „Hau ab, Du Teufel, verschwinde, geh mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr sehen. Du willst nämlich nicht das, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“ Bedenkt man, dass er das zu Petrus sagt, den er gerade zuvor zum Fels seiner Kirche ernannte, so wird noch einmal deutlicher, wie wesentlich und wie wichtig es Jesus ist, gerade dieser satanischen Versuchung zu widerstehen.

Und an die Jünger gewendet, erklärt er unmissverständlich, worauf es ihm ankommt: Wer mein Jünger sein will, der weise jedes Angebot ab, nicht leiden zu müssen. Meine Jünger verleugnen sich selbst, nehmen das Kreuz auf sich und folgen mir nach. Meine Jünger versuchen weder ihr Leben noch die ganze Welt zu gewinnen, sondern sie sind bereit, alles um Jesu willen zu verlieren.

Wenn es um das Leiden geht, dann wird es für den Christen wirklich ernst. Und nicht umsonst sind gerade jene Christen, die trotz Leid, Schmerz oder Tod an Jesus und seiner Botschaft festgehalten haben, unsere größten Heiligen, unsere größten Vorbilder.

Der heilige Franz von Sales sagte einmal: „Je mehr ein Kreuz von Gott kommt, umso mehr müssen wir es lieben“ (DASal 5,74). Und an einer anderen Stelle meint er: „Betrachtest du das Leid an sich, so ist es grauenhaft. Betrachtest du es aber im Willen Gottes, dann wird es Liebe und Wonne“ (DASal 4,122). Solche Worte muss man erst einmal verdauen: Das Leid lieben, das Leid wird zu Liebe und Wonne. Solange einem nichts weh tut, kann man solche Worte vielleicht noch akzeptieren. Aber wenn es ernst wird? Sind wir dann immer noch bereit, sie auszusprechen, und damit der Versuchung zu widerstehen, nicht leiden zu müssen?

Bei der Profess, also beim Versprechen der Gelübde der Armut, Ehelosigkeit und des Gehorsams, bekommt jeder Sales-Oblate das „Professkreuz“ überreicht. Der Grund liegt in den Worten, die Jesus heute gesagt hat: Wer mein Jünger sein will, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Franz von Sales selbst hat dieses Professkreuz entworfen und er hat sich dabei natürlich auch etwas gedacht. Es sind drei Nägel eingeritzt, das Symbol für die drei Gelübde: Armut, Gehorsam, Ehelosigkeit. Wir können auch sagen, dass sie die drei Versuchungen symbolisieren, denen wir widerstehen sollen: Macht, Reichtum, Herrschaft über Leben und Tod. Und diese drei Nägel bluten. Das heißt: Sie sind nicht schmerzfrei, frei von Leiden. Das Blut symbolisiert also die vierte Versuchung, nämlich nicht leiden zu müssen.

Am Fuß dieses Professkreuzes stehen die drei Berge, die im Leben Jesu eine Rolle gespielt haben: Tabor: Der Berg der Verherrlichung; jener Berg, an dem Jesus noch einmal Kraft tankte, um die beiden anderen Berge durchstehen zu können: den Ölberg der Angst und Golgotha, den Kalvarienberg, den Berg des Kreuzestodes. Dieser Berg steht im Zentrum und er ist der Höchste der drei Berge. In der Theologie des Heiligen Franz von Sales ist dieser Kalvarienberg „die wahre Hochschule der Liebe“ (DASal 4,315), es ist der Berg der Liebenden, wo wir uns entscheiden müssen zwischen ewiger Liebe und ewigem Tod. Aus diesem Berg wächst der Palmzweig empor, das Symbol des Sieges über jede Sünde, jedes Leid, jeden Tod. Wer im Leben diese Hochschule der Liebe besteht, der wird das Leben gewinnen, auch wenn er sein Leben einbüßt.

Es lohnt sich sicher, immer wieder einmal über diese vierte Versuchung Jesu, die uns das heutige Evangelium schildert, näher nachzudenken. Es lohnt sich, das Leid zusammen mit dem Willen Gottes zu betrachten. Es lohnt sich, mit Jesus Christus zusammen nach Golgotha zu gehen, auf den Kalvarienberg, um die Hochschule der Liebe zu lernen, damit wir der vierten Versuchung widerstehen, nämlich: der Versuchung, nicht leiden zu müssen. Amen.

P. Herber Winklehner OSFS