Predigt zur Gelübdeerneuerung 2023

Der Wert der inneren Freiheit

Wir Sales-Oblaten haben vor vielen Jahren das Versprechen abgegeben, nach den drei Gelübden, Armut, ehelose Keuschheit und Gehorsam, zu leben; Eine Motivation für dieses Versprechen hatte mit unserem Glauben an einen lebendigen Gott und an seinen erfahrbaren Willen zu tun gehabt. Zugleich gab es aber auch viele andere, oft nicht einmal bewusste, Beweggründe, diese Lebensform zu wählen. In all den vergangenen Jahren gab es für jeden von uns sicher gute und schlechtere Zeiten; Zeiten, in denen wir uns unserer Berufung sicher waren, und Zeiten des Zweifels. Und nach all den Missbrauchsfällen, auch in unseren Gemeinschaften, ist uns heute gemeinsam, dass wir uns selbstkritisch anfragen müssen, welchen zeichenhaften Charakter unser Leben nach den Gelübden in der Geschichte hatte und heute noch hat.

Es gäbe also viel zu erzählen. Aber ich möchte mich auf einen Aspekt beschränken, der mir in der heutigen Zeit wichtig ist. Er betrifft unsere Freiheit, unsere innere Freiheit.

Es ist schön in einer Zeit, in einer Stadt und in einem Land zu leben, wo uns eine große Vielfalt von Möglichkeiten und von Lebensstilen offenstehen. Das hat mit den politischen und sozialen Strukturen zu tun, das hat mit unserem Wohlstand zu tun, das hat mit unserer Bildung zu tun, und mit vielem anderen. All das trägt dazu bei, dass wir unser Leben frei, ganz individuell gestalten können. Wir wissen auch, dass all dies nicht selbstverständlich ist, und wir mit unserer Freiheit verantwortungsvoll umgehen müssen.

Trotzdem: irgendwie sind wir an einen Scheidepunkt angelangt und man darf sich fragen: Wozu dient die Freiheit heute noch? Polarisiert sie nicht viel mehr? Jede/r darf sagen und posten was er oder sie will. Jede/r leben, wie es gerade passt. Geht es wirklich nur darum, noch mehr zu konsumieren? Noch mehr Freizeitangebote? Noch mehr Möglichkeiten beim Supermarkt? Noch mehr Auswahl an Ferienzielen?

Man sagt, nach Corona wird noch mehr herumgeflogen, die Unterhaltungsindustrie boomt, die Adventsmärkte und Lokale sind voll, … Man erklärt sich das damit, dass die Menschen wegen des Lockdowns und der Einschränkungen hungrig danach geworden sind, weil sie all das entbehren mussten. Aber das ist nur oberflächlich wahr, es hat vielmehr damit zu tun, dass die Menschen in der Corona Zeit auf sich selbst aufmerksam gemacht und mit ihrem Inneren konfrontiert worden sind, und jetzt alles tun, um dem eigenen Selbst, ihrem Inneren wieder zu entkommen. Schaut man nämlich auf das Innere des Menschen, auf die Seele, auf das Herz, da wird es oft richtig ungemütlich, weil man wahrnimmt, dass das äußere Freiheitsstreben ein Davonlaufen vor dem Inneren Kerker ist; weil man bemerkt, wie zahlreich die inneren Zwänge, die kleinen Süchte, der Egoismus, die Feigheit, sind… Weil man merkt, dass so Vieles in uns ist, das uns lähmt und blockiert, uns einschließt und isoliert, das uns engstirnig, kleinkariert und neidisch macht. Es ist so Vieles in uns, das konträr zu dem ist, was wir nach außen hin vorgeben zu sein.

Tragisch ist, dass sich die Menschen der meisten inneren Unfreiheiten nicht bewusst sind. Dabei wäre es so einfach, sie zu erkennen. Denn was immer uns an den Menschen um uns herum auffällt, was uns emotional aufwühlt und ärgert, worüber wir uns über andere aufregen und was uns stört, hat immer mit uns selbst zu tun, mit unserer Unerlöstheit und Unfreiheit. Die Mitmenschen sind nur unser Spiegel, nur leider erkennen wir uns nicht selbst darin.

Franz von Sales war innerlich frei, erlöst. Deshalb hat er sich selbst geliebt; sich selbst lieben wollen und können. Das lässt sich beweisen. Er hat Zeit seines Lebens nie ein schlechtes Wort über andere gesagt. Und er hat die Menschen um ihn herum geliebt. Ausnahmslos. Nur innerlich freie Menschen können lieben, wollen lieben, für etwas leben, das Sinn ergibt. Denn Lieben heißt immer, sich zu engagieren. Liebe findet ihre Erfüllung, wenn man sich an etwas und an jemanden bindet.

Vor ein paar Wochen bin ich mit 20 Schülerinnen nach Indien aufgebrochen. Wir haben dabei auch einige Tage in Delhi verbracht und sind dort Mahatma Ghandi begegnet, seinem Haus, dort wo er gelebt hat, wo er ermordet und verbrannt wurde. Einem Menschen, der auch ganz frei, innerlich frei war.

Es gibt eine schöne Anekdote: Gandhi hastet auf einem Bahnhof, weil er Gefahr läuft, den Zug zu verpassen. Dabei verliert er eine Sandale. Er hält inne, kehrt um und stellt die zweite Sandale daneben. Wenn schon „Verlust“ für ihn selbst, soll es sich für den Finder der Sandalen lohnen. Was für ein schönes Beispiel für innere Freiheit und Liebe zum Nächsten.

Aber Gandhi ist vor allem für seinen Pazifismus bekannt. Er wurde nicht nur einmal gefragt, wie er so naiv sein könne und glauben, dass die Welt ohne Waffen, ohne Soldaten, ohne Polizei auskommen könne. Seine Antwort war: Ich weiß, wir Pazifisten sind lebensfremd, wir sind Spinner, aber die Welt braucht uns. Ganz dringend. Denn wir verweisen auf eine andere Welt, auf eine Welt, in der es keine Waffen gibt, auf eine Welt der Worte und des Miteinanders. Wir weisen auf den Frieden hin, indem wir ihn innerlich und mit anderen leben. Nicht ich stehe im Mittelpunkt, sondern das friedliche Miteinander. Und solche Menschen braucht die Welt. Und wenn es nur einer ist.

Daran musste ich denken, als ich mich auf diesen Gottesdienst vorbereitet habe. Die Welt braucht Menschen, die etwas naiv, weltfremd, die Idealisten sind, wie Gandhi, die auf eine andere Welt verweisen, auf eine bessere Welt. Menschen, die innerlich frei sind, die sich selbst und andere lieben können, und die ihre Freiheit und ihre Liebe für ein Ziel, für ein Ideal, für etwas ganz Wichtiges hingeben. Als Hinweistafeln. Als Mahner. Als Idealisten:

für eine bessere Welt: In der es nicht um meinen Besitz, um mein Geld, um mein Eigentum geht, um das immer mehr Haben, sondern um das Wohl aller (Armut);
für eine Welt, in der es nicht um Schönheit, um Lust, um das Angenommensein, um Sex alleine geht, sondern um Freundschaft, Gemeinschaft und um das friedliche Miteinander in der großen Familie der Menschheit (Ehelosigkeit);
für eine Welt, die nicht von meinen kleinen Wünschen, um Aufstieg, Ansehen, Einfluss und privaten Ambitionen bestimmt wird, sondern wo man beginnt, aufeinander zu hören, Rücksicht zu nehmen und immer wieder die Frage nach dem größeren Zusammenhang stellt (Gehorsam)

Das wäre eine andere Welt, eine bessere. Das wäre was Großartiges. Jesus, Franz von Sales, Mahatma Ghandi. Wir Oblaten. Ein wenig neidisch sollte die Welt auf uns blicken, neidisch auf unsere innere Freiheit. Dann hätten wir unsere Berufung gelebt.

Pater Provinzial Josef Költringer OSFS, Wien-Annakirche, 20. November 2023