Predigt zum 25. Sonntag im Jahreskreis (Mt 20,1-16)

Gott gibt jedem eine Chance

„Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin.“ So wird dieser Vers heute übersetzt. Früher lautete er: „Oder bist du neidisch, weil ich gütig bin“. Martin Luthers Übersetzung lautet: „Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin.“ Egal, wie wir diesen Satz auch übersetzen, er ist der so genannte „springende Punkt“ dieses Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg. Und dieser Satz macht uns deutlich, dass es bei diesem Gleichnis, das Jesus erzählt, um die Güte des Weinbergbesitzers geht – und damit um die Güte Gottes, um seine Großzügigkeit, seine Barmherzigkeit. So ist Gott, so will Jesus seinen Zuhörerinnen und Zuhörern sagen, er gibt jedem Menschen zu jeder Zeit, selbst in der letzten Stunde seines Lebens eine Chance, egal, wie sein Leben davor auch ausgesehen hat.

Selbstverständlich ist Gott gerecht. Da können wir ganz beruhigt sein. Daran rüttelte auch Jesus Christus nicht. Aber, und das ist das Besondere an der Botschaft Jesu: Seine Gerechtigkeit ist größer als die der Menschen. Gott ist eben auch gütig und barmherzig.

Mit einem Denar konnte damals ein Arbeiter sich selbst und seine Familie für einen Tag ernähren. Wem dieser Denar fehlte, der musste samt seiner Familie hungrig ins Bett gehen und hoffen, dass er wenigstens am nächsten Tag genug zu essen bekommt. Die Gerechtigkeit des Weinbergbesitzers besteht also darin, dass er es allen Arbeitern ermöglicht, sich und seine Familie zu ernähren. Damit das wirklich allen möglich ist, gibt er auch jenen, die den ganzen Tag keine Arbeit fanden, einen Denar und zeigt damit seine Barmherzigkeit.

Das soziale Engagement, die Caritas, gehörten daher von Anfang an neben der Liturgie und der Verkündigung zum Wesentlichen des Christentums. Jesus selbst ging hier mit gutem Beispiel voran. Er ging zu den Sündern, Ausgestoßenen, Armen und Kranken … um ihnen deutlich zu machen, dass auch sie eine Chance haben.

Der heilige Franz von Sales war sich darüber auch sehr bewusst. Er verschenkte sein Silberbesteck, wenn es sein musste, und seinen Mantel, behandelte die Könige und Herzöge mit dem gleichen Respekt wie die Bettler. Alle sollten durch seine Herzlichkeit die Barmherzigkeit und Liebe spüren, die Gott für uns alle bereithält. Und es gab nicht wenige Menschen, die ihn gerade deshalb mit einem bösen Auge anschauten, weil er gütig war. Für ihn war das eine Auszeichnung, denn so war er sich sicher, dass er Jesus Christus sehr gut nachahmte. Den Menschen gab er den Rat, auf den barmherzigen Gott, bei dem die Letzten die Ersten sind, nicht mit scheelen, neidischen, eifersüchtigen Auge böse zu blicken, sondern ihm für seine Barmherzigkeit zu danken, in dem wir beten: „O Gott, ich preise Deine Barmherzigkeit und nehme dankbar das Geschenk an, das Du in Deiner Güte mir anbietest. Jesus, mein Heiland, ich nehme Deine ewige Liebe an“ (DASal 1,58).

Wer das nicht tut, und mit dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg Gerechtigkeitsprobleme hat, der sollte sich eigentlich zwei Fragen stellten:

Erstens: Glaubst du denn, dass du bei denen bist, die den ganzen Tag gearbeitet haben? Und zweitens: Meinst du denn, dass du besser bist und mehr verdienst als die anderen? Gottes Barmherzigkeit fordert uns also dazu heraus, darüber nachzudenken, wie sehr unser Herz vom Hochmut und vom Stolz über das eigene Handeln beeinflusst ist.

Ich jedenfalls freue mich sehr darüber, dass Jesus dieses Gleichnis erzählt hat. Denn damit weiß ich, dass ich bei Gott immer eine Chance habe, selbst wenn mein heutiger Tag völlig daneben gegangen ist. Ich schau Gott also nicht mit bösen Augen an, sondern mit großer Dankbarkeit. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS