Predigt zum 2. Sonntag der Osterzeit (Joh 20,19-31)
Jesus kommt in die Quarantäne
in sehr kleinen Schritten haben wir begonnen, unser Leben wieder etwas zu normalisieren. Noch aber sind wir vom ganz normalen Alltag sehr weit entfernt. Die Gefahr der Ansteckung ist weiterhin gegeben. Viele Maßnahmen bleiben bestehen: das Abstand halten, der Mund- und Nasenschutz, das Händewaschen, die Achtsamkeit und Rücksichtnahme gegenüber den Anderen.
Auch in Jerusalem hat sich nach dem Ostermorgen die Situation noch keineswegs normalisiert. Aus Furcht vor den Juden haben sich die Jünger in freiwillige Quarantäne hinter verschlossenen Türen begeben – und sie harren der Dinge, die da noch kommen werden. Es ist ihnen überhaupt nicht klar, wie es nun weitergehen soll. All das, was geschehen war, ist zu unbegreiflich: das leere Grab, die Begegnungen mit dem Auferstandenen, dessen grausamen Kreuzestod sie drei Tage vorher miterleben mussten.
Plötzlich und unvermittelt tritt Jesus in die Mitte dieser Quarantänesituation. Verschlossene Türen sind ihm kein Hindernis. Jesus weiß, dass seine Jünger gerade jetzt seine Unterstützung brauchen. Und er gibt sie ihnen: „Empfangt den Heiligen Geist!“ Er ist meine Kraft, meine Energie, er tröstet, ermutigt, macht kreativ und macht fähig zu vergeben und Vergebung anzunehmen.
Einer der Apostel war bei dieser Jesus-Begegnung im Abendmahlssaal hinter verschlossenen Türen nicht dabei. Der Apostel Thomas. Wir nennen ihn den Zweifler, den Ungläubigen. Ich glaube aber, so streng dürfen wir mit ihm gar nicht sein. Zu ihm hat Jesus einmal gesagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“ Nachdem Thomas fragte: „Herr, wohin sollen wir gehen? Wir wissen den Weg nicht.“ Und dieser Thomas möchte eben jetzt auch die gleichen Erfahrungen machen wie die anderen Apostel: Eine echte Jesus-Begegnung, berührend und Kraft spendend mit Heiligem Geist. Es ist also eigentlich nicht der Zweifel, der den Apostel Thomas antreibt, sondern seine Sehnsucht, den Herrn genauso von Angesicht zu Angesicht zu sehen wie die anderen.
Und Jesus geht auf dieser Sehnsucht des Thomas auf besonders intensive Art und Weise ein: Schau, da sind meine Hände. Schau, da ist meine Seite. Streck deine Finger aus, berühre mich – und dann sei nicht mehr ungläubig, sondern gläubig.
„Wer Sehnsucht hat, Gott zu lieben, der liebt ihn bereits“, meint der Heilige Franz von Sales. Gott hat in jedem von uns eine Sehnsucht eingepflanzt, ihn zu lieben. Manchem fällt es leicht, Gott zu lieben, manche brauchen dazu etwas länger. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott für jeden einzelnen die richtigen Mittel findet und gebraucht, um ihn zur Gottesliebe hinzuführen, zum Bekenntnis des Thomas: „Mein Herr und mein Gott!“
Der Evangelist Johannes beschließt seine Ostererzählungen mit den Worten: „All das ist aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.“
Darum geht es also: Jede und jeder von uns soll durch diese Erzählungen auf seine persönliche Weise zum Bekenntnis kommen: Jesus ist Christus, der Sohn Gottes, damit er durch den Glauben Kraft und Energie bekommt für sein Leben.
Wir können Jesus Christus sehr wohl immer noch konkret, leibhaftig und spürbar begegnen. Überall dort, wo wir Liebe spüren, spüren wir die Berührungen Gottes. Das müssen wir aber glauben – und daher sagt Jesus ja auch: „Selig, die nicht sehen, und doch glauben“.
Selig sind diejenigen, die in der spürbaren Liebe Jesus Christus persönlich und hautnah entdecken.
Unsere Aufgabe als Christen ist es, solche Gotteserfahrungen und Jesus-Begegnungen so oft es geht, möglich zu machen. Wie das geht? Ein Tipp von Franz von Sales:
„Ich will keine fantastische, mürrische, melancholische, verärgerte und kopfhängerische Frömmigkeit; wohl aber eine sanftmütige, freundliche, angenehme, friedliche – mit einem Wort eine ganz aufrichtige Frömmigkeit, die von Gott zuerst und dann von den Menschen geliebt wird.“ (DASal 6,43)
Unsere Ausnahmesituation, die wir gerade erleben, hat sehr viele Christinnen und Christen sehr kreativ werden lassen, damit sie Gottesbegegnungen in den Quarantänen, in denen sich die Menschen befinden, ermöglichen – auf sanftmütige, freundliche, angenehme, friedliche Weise. Vielleicht ist ja genau das der Sinn, der hinter dieser Pandemie-Erfahrung steckt, die wir gerade durchleben müssen. Amen.
P. Herbert Winklehner OSFS