Predigt zum 5. Fastensonntag (Joh 8,1-11)
Reden und Urteilen
Das Wesentliche bei dieser berühmten Szene der Begegnung von Jesus mit der Ehebrecherin ist nicht die Frage, warum nicht auch der Ehebrecher zu Jesus gebracht wurde, sondern nur die Frau. Nicht diese Diskriminierung und Frauenfeindlichkeit sind Hauptthema dieses Evangeliums. Das Wesentliche an dieser Szene ist jener Satz, der genau in der Mitte steht und von gespanntem Schweigen umrahmt ist – Jesus schreibt etwas in den Sand – und alle warten darauf, was passiert. Der entscheidende Satz ist die Aussage Jesu: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“
Mit diesem Satz geht diese Szene des Evangeliums weit über das Thema Ehebruch hinaus und betrifft tatsächlich jede und jeden, und es betrifft uns täglich. Plötzlich geht es nämlich ganz allgemein darum, wie wir von und über andere sprechen und über sie urteilen.
Da wir uns in der österlichen Bußzeit befinden, dürfen wir jetzt gerne ein wenig an die letzte Woche denken. Erinnern wir uns einmal: Wie habe ich in den letzten Tagen über andere gesprochen? Was habe ich über andere geredet, was von ihnen erzählt? Wie habe ich über deren Handlungen und Verhalten geurteilt? Über Familienmitglieder, die Nachbarschaft, den Freundes- und Bekanntenkreis, die Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz, über die Menschen in der Pfarrgemeinde, und über all jene, von denen in der Öffentlichkeit berichtet wurde? War das etwas Gutes, oder waren auch ein paar Steine dabei, die ich mit meinen Worten auf sie geworfen habe? Welche Urteile oder gar Verurteilungen sind mir da über die Lippen gekommen?
Jesus sagt zu all dem: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Und der heilige Franz von Sales zieht aus dieser Aussage den klaren Schluss: „Ich beschwöre dich, niemals weder offen noch heimlich von irgendjemandem lieblos zu reden. Hüte dich, deinen Mitmenschen fälschlich Verbrechen und Sünden anzudichten, heimlichen nachzuspüren, bestehende zu vergrößern, gute Handlungen schlecht auszulegen und das Gute, das du an jemandem kennst, in Abrede zu stellen, oder durch Bosheit zu verdrehen und durch Worte herabzusetzen.“
All das, wovor Franz von Sales hier warnt, hieß früher die „üble Nachrede“, heute haben wir dafür das Wort „Cyber mobbing“ oder „Fake news“ – und mit der modernen Technik ist das mittlerweile noch viel leichter in die Tat umzusetzen, was oft genug zu „Shitstorms“ oder Hass im Netz führt. Es ist heute überhaupt keine Schwierigkeit mehr, den Ruf einer oder eines anderen nachhaltig zu schädigen. Daher gilt das, was Franz von Sales vor vierhundert Jahren sagte, heute noch viel mehr: „Wer die üble Nachrede aus der Welt schaffen könnte, hätte sie von einem großen Teil der Sünden und der Bosheit befreit.“
In der Fastenzeit sollen wir ja auch Verzicht üben und Gutes tun. Versuchen wir es einmal damit, einfach ein paar Tage darauf zu verzichten, über andere zu reden und zu urteilen, vor allem nicht über ihre Fehler und Schwächen. Oder achten wir in der kommenden Woche einmal ganz besonders darauf, was wir denn so im Laufe eines Tages alles über andere sagen, wie wir über andere reden und urteilen. Und denken wir dabei vor allem an das Wort Jesu, das im Zentrum des heutigen Evangeliums steht:
„Wer von euch ohne Sünden ist, der werfe den ersten Stein.“ Amen.
P. Herbert Winklehner OSFS