Predigt zum 2. Sonntag der Osterzeit (Joh 20,19-31)
Zweifel: Bruder des Glaubens
Wenn wir ganz ehrlich sind, dann müssen wir eigentlich zugeben: Der Apostel Thomas, das sind auch wir. Oder glaube ich tatsächlich unerschütterlich, zweifelsfrei und felsenfest zu jeder Zeit, dass Jesus Christus nicht nur gekreuzigt wurde und elendig zugrunde ging, sondern nach drei Tagen im Grab wieder auferstand und lebt? Habe ich da wirklich nie einen Zweifel daran?
Vor allem, wenn um mich herum die Stimmen immer lauter werden, dass das doch alles Unsinn ist, was die Bibel oder die Kirche so alles von sich gibt. Das ist doch alles höchstens eine schöne Geschichte, ein schönes Märchen mit einem wunderbaren Happy End, so wie in den Kinofilmen, aber mit der Realität hat das alles nichts zu tun – das hält keiner wissenschaftlichen Prüfung stand, und kann es auch nicht, weil uns die Beweise fehlen. Wir haben ja nur die Aussagen der Anhängerinnen und Anhänger Jesu, die von den Evangelisten erst viel später und sicherlich auch geschönt wiedergegeben sind. Außerdem widersprechen sich manche dieser Aussagen. Der zeitliche Ablauf kann so gar nicht stimmen … einmal sind die Apostel in Jerusalem und dann wieder am See Genezareth. Das zeigt doch klar, dass man all das nicht wörtlich nehmen kann.
Und all diese Fragen und Einwände sind auch gut so. Der Zweifel bewahrt mich nämlich davor, vorschnell alles zu glauben, was mir gesagt wird. Vor allem in Zeiten von Fake News und alternativen Fakten, in Zeiten, in denen Verschwörungstheorien aller Art sich in Windeseile in der ganzen Welt verbreiten, ist der Zweifel sogar sehr wichtig. Nicht alles, was im Internet und in den sozialen Medien behauptet wird, ist auch wahr – und das gilt auch für alles, was über den Glauben, die Religion, die Kirche oder das Christentum erzählt und berichtet wird.
Der Zweifel ist der Bruder des Glaubens. Er bewahrt mich davor, an falsche Götter und Götzenbilder zu glauben. Und das Beispiel des Apostels Thomas zeigt mir, wie Jesus mit diesem Zweifel umgeht: nämlich im wahrsten Sinne des Wortes „berührend“. Jesus nimmt Thomas mit seinen Fragen ernst. Er geht auf ihn zu, er lässt sich von ihm berühren und führt ihn auf diese behutsame Weise zum wahren glauben: „Mein Herr und mein Gott!“
Im Heilige Jahr, das wir gerade feiern, wird der Apostel Thomas für uns zum Zeichen unserer Hoffnung, dass Jesus Christus auch uns auf diese behutsame und berührende Weise zum echten und wahren Glauben führen wird, vor allem wenn wir einmal vom Zweifel geplagt werden. Wir dürfen all das, was wir nicht verstehen, Jesus hinhalten und ihn bitten, dass er es in Glauben umwandelt.
Wichtig ist, dass wir nicht aufhören, Jesus Christus zu fragen und ihn zu bitten, er möge uns führen und begleiten. Wichtig ist, dass wir nicht aufhören, so wie der heilige Franz von Sales zu beten: „Herr Jesus, du wirst immer meine Hoffnung im Land der Lebenden sein“ (DASal 11,329). Amen.
P. Herbert Winklehner OSFS