Predigt zum Karfreitag (Joh 18,1 – 19,42)

Glücklich, die vor dem Kreuz nicht davonlaufen

der heilige Franz von Sales sagte einmal in einer Predigt: „Glücklich jene, die vor dem Kreuz nicht davonlaufen“ (DASal 9,202). Die jährliche Feier des Karfreitags liefert uns den Grund, warum Franz von Sales das sagen konnte.

Blicken wir einmal zurück in die Geschichte: Vor 2000 Jahren war die Todesstrafe ein gängiges Mittel, um bei Kapitalverbrechen für Gerechtigkeit zu sorgen. Bei den Juden wurde der Gotteslästerer, Ehebrecher, Mörder gesteinigt. Die Römer ließen sich etwas noch Schrecklicheres einfallen: die Kreuzigung. Das war nicht bloß eine Hinrichtung, das war ein Schauspiel, an dem sich das Volk ergötzen konnte … Stundenlang war es möglich, den Verbrecher beim Todeskampf zuzuschauen, man durfte ihn demütigen, verspotten, anspucken, alles war erlaubt und sogar erwünscht. Der Verbrecher wurde nackt den Blicken der Masse ausgesetzt. All das war so menschenverachtend, entwürdigend und demütigend, dass das römische Recht es verbat, dass römische Staatsbürger gekreuzigt werden.

Jesus Christus hat all das erlitten und damit eine Revolution ausgelöst, die die Welt von Grund auf veränderte.

All das, was wir heute als die großen Errungenschaften des modernen Rechtsstaates betrachten, die Menschenrechte, die Würde des Menschen, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Gewaltfreiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, Bewahrung der Schöpfung, Einsatz für Arme, Kranke, Außenseiter, Flüchtlinge haben ihre Wurzeln in Jesus Christus, dem Gekreuzigten.

Das Symbol für all das ist das Kreuz. Jesus hat durch seinen Tod am Kreuz aus einem grausamen Marterwerkzeug ein Symbol der Liebe, der Würde, der Menschenrechte, der Kultur, des Lebens gemacht – und noch mehr: er hat all dem, was man zuvor als sinnlos betrachtete, einen Sinn gegeben: dem Leid, dem Opfer, der Hingabe.

All das wird uns bewusst, wenn wir auf das Kreuz blicken … all das gerät aber auch in Vergessenheit, wenn das Kreuz aus unserem Blickfeld verschwindet.

Daher ist der Karfreitag so wichtig, weil er uns genau darauf aufmerksam macht.

Wenn wir nun das Kreuz enthüllen und verehren, dann verehren wir also nicht ein grausames Folterwerkzeug, sondern wir verehren die Revolution der Liebe, die uns Jesus Christus durch das Kreuz offenbarte.

Das Kreuz zeigt nach oben und nach unten. Es zeigt nach links und nach rechts. Im Blick auf das Kreuz erkennen wir, dass die Liebe zu Gott und die Liebe zum Menschen die Grundlage nicht nur für das Christentum ist, sondern für die Zukunft der gesamten Menschheit. Ein anderes Wort des heiligen Franz von Sales lautet: „Das Kreuz ist das wahre Buch der Christen“ (DASal 9,57). In diesem Symbol ist also alles enthalten, was die Menschheit wissen muss, um gerecht, friedvoll, in Würde, menschlich, sinnvoll und mit einer Zukunft leben zu können, die in die Ewigkeit reicht. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS