Predigt zum Karfreitag
Das Kreuz – ein spiritueller Brennpunkt
Im Kloster der Heimsuchung in Annecy, Frankreich, dort wo der heilige Franz von Sales und die heilige Johanna Franziska von Chantal begraben sind, gibt es einen Raum, in dem die unterschiedlichsten Gegenstände aus dem Leben dieser beiden Heiligen aufbewahrt werden.
Als ich vor einigen Jahren diesen Raum anschauen durfte, fiel mir sofort ein Kreuz auf, und ich fragte, welche Bedeutung es hat. Mir wurde dann gesagt, dass es sich bei diesem Kreuz um das persönliche Kreuz der heiligen Johanna Franziska handelt, das schon in ihrem Zimmer im Schloss hing. Es war einer der wenigen Gegenstände, die sie aus ihrem Leben als Schlossherrin mit ins Kloster nahm. Vor diesem Kreuz hat sie immer gebetet, besonders in den schwersten und dunkelsten Stunden ihres Lebens, nach dem Tod ihres Ehemannes, dem Tod ihrer Kinder, dem Tod des heiligen Franz von Sales, in ihren Stunden der Trostlosigkeiten und Glaubenszweifel. Mich hat das damals sehr beeindruckt und es hat mir geholfen, die christliche Kreuzverehrung besser zu verstehen.
Wir verehren im Kreuz kein Folterwerkzeug, sondern Jesus Christus den Gekreuzigten, der all das Leid auf sich nahm, um uns Menschen zu erlösen.
Uns Christen ist damit ein Symbol, ein Zeichen, ein Ort geschenkt, wo wir hinkommen können, um all unsere Anliegen, Sorgen, Fragen, Zweifel, Nöte, Leiden vor Gott hinzulegen.
Und das geschieht ja auch immer wieder und an unzähligen Orten in dieser Welt. Wenn ich irgendwo einem Kreuz begegne, in einer Kirche, in einer Wohnung, im öffentlichen Raum, ganz egal, dann stelle ich mir vor, dass hier immer wieder Menschen vorbeikommen und ihren Anliegen vorbringen. Jedes Kreuz wird so für mich zu einem spirituellen Brennpunkt aller Anliegen der Menschheit. Und es wird ein Lernort dafür, dass Gott unsere Anliegen auch wirklich ernst nimmt, und wir daraus Kraft schöpfen können.
Deshalb hat Franz von Sales der heiligen Johanna Franziska von Chantal stets empfohlen, sich unter das Kreuz zu begeben, um dort zu beten. Wörtlich schrieb er ihr einmal: „Halten wir uns ganz zu Füßen des Kreuzes, überfroh, wenn nur irgendein Balsamtropfen, der diesem Kreuz überall entquillt, auf unser Herz fällt und wir eines dieser niedrigen Gräser pflücken können, die im Umkreis des Kreuzes wachsen.“ (DASal 5,221).
In diesem Sinne lade ich uns alle nun zur Kreuzverehrung ein, heute am Karfreitag, an dem wir das Leiden und den Kreuzestod unseres Herrn Jesus Christus gedenken. Amen.
P. Herbert Winklehner OSFS