Predigt zum 6. Sonntag der Osterzeit (Joh 15,9-17)

Liebe ist …?

nach diesem Evangelium lautet eigentlich die große Frage: „Was ist Liebe?“

Der heilige Franz von Sales wurde 1877 in die Reihe der großen Kirchenlehrerinnen und Kirchenlehrer aufgenommen – und erhielt dabei den Titel „Doctor amoris“ … also „Lehrer der Liebe“. Demnach müsste er also diese Frage beantworten können und wissen, was das ist: Liebe.

Und ja, es gibt von ihm auch eine Menge Aussagen über die Liebe:

„Die Liebe bestimmt den Wert unseres Tuns.“

„Die Liebe ist die Krönung der Schöpfung, die Vollendung des Weltalls.“

„Die Liebe zerstört nicht, sie vollendet alles.“

„Welch ein Glück, lieben zu dürfen, ohne ein Übermaß fürchten zu müssen“.

„Liebe ist Freundschaft mit Gott“.

Man könnte diese Reihe an Aussagen beliebig lange fortsetzen. Franz von Sales hat ja ein ganzes Buch über die Liebe geschrieben. Und er war auch teilweise sehr romantisch, wenn er zum Beispiel schreibt:

„Das Herz spannt in der Liebe seine Flügel zum Flug aus, die Liebe aber ist sein Flug. Liebe ist also, klar und eindeutig gesagt, Bewegung, Überströmen, Hinstreben des Herzens zum Guten.“ (DASal 3,65)

Das heutige Evangelium bildete übrigens die Grundlage für all sein Nachdenken darüber, was Liebe ist. Das ist auch der Grund, warum die Kirche genau diese Stelle aus dem Johannes-Evangelium als Tagesevangelium für seinen Gedenktag am 24. Jänner ausgewählt hat. Diese Stelle gibt nämlich genau wieder, was die gesamte Theologie, die gesamte Spiritualität und das gesamte seelsorgliche Wirken des heiligen Franz von Sales ausmachte: Gott ist Liebe … Bleibt in meiner Liebe … Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe … Ihr seid meine Freunde, ich habe mein Leben für euch hingegeben, denn es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt … Ich habe euch erwählt, damit ihr Frucht bringt und eure Frucht bleibt. Daher trage ich euch auf: Liebt einander.

Wenn man das so liest und hört und noch einmal liest und noch einmal hört, dann fragt man sich eigentlich heute noch mehr: „Was ist Liebe?“

Der Begriff Liebe scheint nämlich mittlerweile etwas völlig anderes zu bedeuten, als Jesus und später Franz von Sales damit verbinden. Jemandem, der nicht verheiratet ist, ja der sogar das Gelübde der Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen abgelegt hat, also Ordensfrauen, Ordensmänner, Priester, Bischöfe … denen nimmt man heutzutage ohnehin nicht mehr ab, dass sie wissen, was Liebe ist. Und manche meinen sogar, dass man dieses Wort heutzutage gar nicht mehr verwenden sollte, weil die Menschen heute etwas ganz anderes darunter verstehen.

Das mag alles stimmen, wir Christen sollten uns aber genau deshalb umso mehr bemühen, diesem Begriff wieder jene Bedeutung zu geben, die er jahrhundertelang hatte, denn wir glauben ja an einen Gott, dessen Wesen nichts anderes ist als Liebe: „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!“ – Wie soll man diese fundamentalen Aussagen Jesu ohne den Begriff Liebe erklären? Wie soll man sein Hauptgebot: „Liebt einander“ erklären? „Du sollst Gott lieben und den Nächsten wie dich selbst“?

Das Nachdenken darüber, was Liebe ist, bleibt also eine wesentliche Aufgabe einer jeden, eines jeden, der Christus nachfolgen will, egal ob als Ehemann, Ehefrau, Single oder Eheloser.

Und ich glaube, dabei sind zwei Worte sehr wichtig, die wir heute sehr gerne vergessen, nämlich Hingabe und Opfer. „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“. Dass Liebe etwas mit Hingabe und Opfer zu tun hat, ja dass es keine größere Liebe gibt als jene, die sich hingibt, die das eigene Wohl, den eigenen Vorteil opfert, damit es die anderen besser haben. Ja, das müssen wir heute wieder lernen und in den Mittelpunkt der Definitionen über die Liebe rücken, denn sonst reden wir über Egoismus, Selbstsucht, aber nicht über die Liebe, die Jesus Christus uns gelehrt hat. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS