Predigt zum 5. Sonntag der Osterzeit (Joh 13,31-33a.34-35)

Liebt einander

Zur Zeit Jesu gab es über 600 Gesetze und Vorschriften, an die sich der fromme Jude zu halten hatte.

Das Kirchenrecht der Katholischen Kirche kennt heute 1752 Paragraphen, die das Leben der Gläubigen regeln.

Im Angesicht dieser Fülle wirkt die Aussage Jesu, die wir gerade gehört haben, geradezu simpel:

„Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander!“

So einfach wäre es also – und wahrscheinlich ist es gerade deshalb so furchtbar kompliziert. Denn was heißt denn das jetzt genau: „Liebt einander“.

Aus der Fülle der Antworten, die darauf gegeben werden können, sind dann eben über die Jahrhunderte all die Gesetze, Gebote, Vorschriften, Weisungen und Mahnungen entstanden, die wir in der Kirche bis heute kennen. Manche Gebote sind zeitlos – wie etwa die Zehn Gebote – manche Gebote ändern sich immer wieder einmal auf die eine oder andere Weise, manche werden abgeschafft, manche kommen dazu.

All das ist zunächst einmal gar nichts Schlechtes. Das Leben ist eben dynamisch, es verändert sich. Und damit müssen sich auch Regeln ändern und an die Zeiten anpassen.

Eines aber sollten wir dabei nie vergessen: All diese Gebote, Gesetze und Vorschriften sind für den Menschen da, und nicht der Mensch für diese Gebote.

Und ein zweites Wichtiges: All diese Gesetze, Gebote und Vorschriften müssen sich am einfachen Grundgebot Jesu messen, korrigieren und anpassen lassen: „Liebt einander“. Jeder Paragraph des Kirchenrechtes, der diesem Grundgebot der Liebe widerspricht, ist nichtig.

Somit bleibt die Frage: Was bedeutet das nun wirklich: „Liebt einander“. Und da haben wir leider heute das Problem, dass jede und jeder von uns unter „Liebe“ wahrscheinlich etwas anderes versteht. Es gibt die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten, die Liebe zu mir selbst, die Liebe zur Schöpfung, zur Natur, zu Sachen, Hobbies, … und es gibt die kindliche Liebe, die freundschaftliche Liebe, die eheliche Liebe, die begehrende Liebe, die hingebende Liebe und so weiter und so weiter.

Der österreichische Philosoph und Theologe Clemens Sedmak hat ein ganzes Buch darüber geschrieben und diesem Buch den Titel gegeben: „Ans Herz gelegt. Die vielen Sprachen der Liebe“. Es zeigt sehr schön, wie vielfältig und unterschiedlich dieses „Liebt einander“ verstanden, gedeutet und vor allem gelebt werden kann.

Jesus selbst gibt uns eine Deutung mit auf den Weg, die sein „neues Gebot“ erklärt. Er sagt: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“

Es ist also Jesus Christus selbst, der uns die Erklärung gibt: „So wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“

Wie hat Jesus Christus geliebt?

Er hat auf seine göttliche Macht verzichtet und ist Mensch geworden, um ganz bei den Menschen sein zu können.

Er hat sich erniedrigt und hat den Menschen gedient, ja er wurde sogar der Sklave der Menschen.

Er hat sein Leben hingegeben, damit der Mensch leben kann.

Er ist zu jenen gegangen, die in der Gesellschaft nichts gelten: die Sünder, die Ausgestoßenen, die Armen, die Kranken, die Bedürftigen.

All das bedeutet: „Liebt einander so, wie ich euch geliebt habe.“

Der heilige Franz von Sales ist in die Kirchengeschichte als „Lehrer der Liebe“ eingegangen. Für ihn ist Jesus Christus das Fundament all seiner Erklärungen über die Liebe. Genau das schreibt er an Ende seines theologischen Hauptwerkes „Abhandlung über die Gottesliebe (Theotimus): „Der Tod und das bittere Leiden unseres Erlösers ist der anziehendste und zugleich gewaltigste Beweggrund, der unsere Herzen in diesem sterblichen Leben beseelen kann“ (Theotimus XII,13; DASal 4,315). Deshalb soll sich der Mensch dazu entscheiden, Gott und die Menschen über alles zu lieben – so wie Jesus uns geliebt hat.

„Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander“. Wir Christen sind jeden Tag dazu herausgefordert, darüber nachzudenken, was das in meinem konkreten Leben bedeutet, im Alltag, in meinen täglichen Entscheidungen und Handlungen. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS