Predigt zum 4. Adventsonntag (Lk 1,39-45)
Begegnungen
Der hl. Franz von Sales war von der Szene des heutigen Evangeliums so fasziniert, dass er gleich eine Ordensgemeinschaft von Frauen gründete, die diese Begegnung zwischen Maria und Elisabet zu ihrer biblischen und spirituellen Grundlage machte. Diese Ordensgemeinschaft der Salesianerinnen heißt daher auch Orden der Schwestern von der Heimsuchung Mariens.
Was kann einen Menschen an dieser Bibelstelle so begeistern? Ich glaube, es ist einfach das Wort Begegnung und wie diese in dieser Geschichte von statten ging. Zwei Frauen, die einander in der Zeit ihrer Schwangerschaft beistehen wollen, begegnen sich – und aus dieser Begegnung wird ein Gotteserlebnis. Seither wissen wir Menschen: Ich kann in meinen Begegnungen Gott entdecken. „Zuweilen“, so schreibt Franz von Sales, „fühlt die Seele an einer gewissen innerlichen Freude, dass Gott ihr gegenwärtig ist, und das macht sie überaus glücklich. So erging es der hl. Elisabeth, als Unsere Liebe Frau sie besuchte.“ (DASal 3,301). Damit ist es auch nicht mehr egal, wie ich meine Begegnungen gestalte.
Wie vielen Menschen bin ich heute schon begegnet? Meinen Familienangehörigen, Nachbarn – wie vielen Unbekannten? Und wie waren diese Begegnungen? Verschlafen, grantig, stumm, – oder herzlich, zuvorkommend, freundlich, liebevoll? Ist mir überhaupt bewusst geworden, dass in jedem Menschen Gott zu Hause ist, dass ich also die Chance habe, in jeder Begegnung mit Menschen, egal welche das sind, Gott selbst zu begegnen?
Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi hat dies sehr schön in seiner berühmten Geschichte vom Schuster Martin zum Ausdruck gebracht. Dieser Schuster Martin hatte einen Traum, und zwar träumte ihm, dass am nächsten Tag Gott zu ihm auf Besuch kommt. Selbstverständlich bereitet sich Martin sofort darauf vor. Sein hoher Gast soll es bei ihm wirklich gut haben. Er putzt das Haus von oben bis unten. Zieht gleich sein bestes Gewand an und wartet. Im Laufe des Tages kommen nun verschiedene Leute in seine Schuhmacherwerkstatt. Jemand, der mit ihm ein wenig plaudern will. Einer möchte Schuhe haben, ein anderer will sie repariert haben. Wieder einer hat Hunger und möchte ein wenig essen. Und dann kommt auch irgendwann einer, der möchte sich bei ihm einfach nur ein bisschen aufwärmen. Und schneller als Martin denkt, ist es schon wieder Abend – und Gott ist immer noch nicht auf Besuch gekommen. Etwas traurig legt sich Martin nieder und denkt sich, bevor er einschläft, na, vielleicht ist Gott ja irgendwo aufgehalten worden, er ist ja sicher eine hohe Persönlichkeit, die immer viel zu tun hat. Und in der Nacht schließlich träumt Martin wieder. Und wieder erscheint ihm Gott. Und Gott bedankt sich bei ihm, dass er ihn heute so gut aufgenommen hat. Wann? Will Martin da wissen, du bist ja gar nicht gekommen. Doch, sagt Gott, ich habe dich heute gleich ein paar Mal besucht: einmal wollte ich einfach nur mit dir plaudern, dann wollte ich ein Paar Schuhe, dann wollte ich, dass du meine Schuhe reparierst, dann wollte ich etwas zu essen und ganz am Schluss, da wollte ich mich bei dir bloß ein wenig aufwärmen. Da verstand Martin etwas ganz Wichtiges: In jedem Menschen, dem wir begegnen, begegnen wir Gott – und es ist daher überhaupt nicht gleichgültig, wie wir uns bei einer solchen Begegnung verhalten.
Vielleicht ist genau das das Faszinierende an der Geschichte der Begegnung von Maria und Elisabet aus dem heutigen Evangelium: Jede Begegnung zwischen Menschen ist auch eine Begegnung mit Gott. Wer dieses Wunder begreift, hat sehr viel davon begriffen, was Christentum bedeutet, deren grundlegende Glaubenswahrheit darin besteht, dass Gott Mensch wird. Eine Konsequenz daraus ist, dass es in unserem Glauben damit keinen Unterschied mehr gibt, zwischen Gottes- und Nächstenliebe. Selig, wer glaubt, dass sich diese Wahrheit wirklich erfüllt. Er hat eigentlich keine Probleme mehr, Gott in seinem Leben zu entdecken. Amen.
P. Herbert Winklehner OSFS