Predigt zum Palmsonntag (Mk 11,1-10)

Von „Hosianna“ zu „Ans Kreuz mit ihm“

was mich in der Liturgie des Palmsonntags immer am meisten beeindruckt, ist der plötzliche Stimmungsumschwung, der sich bei der Bevölkerung ereignet.

Zuerst jubelt das Volk mit großer Begeisterung „Hosianna“. Jesus wird mit Palmzweigen als König empfangen, man legt sogar Kleider vor ihm auf den Weg, damit er nicht mit dem Schmutz der Straße in Berührung kommt. Und wenige Tage später geschieht das genaue Gegenteil: Aus dem überschwänglichen Jubel wird abgrundtiefer Hass, aus „Hosianna“ wird „Ans Kreuz mit ihm“. Anstelle der Palmzweige gibt es Geißelhiebe, die Dornenkrone, das Kreuz. Jesus wird seiner Kleider beraubt, nackt hängt er am Kreuz, allen Blicken ausgesetzt – und über ihm die Tafel „Jesus von Nazareth, König der Juden“.

So unberechenbar und so leicht manipulierbar ist der Mensch. Nicht nur damals, sondern auch heute noch: im Sport, in der Politik, in der Kunst, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, in der Schule, am Arbeitsplatz und natürlich auch in der Kirche. Die Masse bejubelt ihr Idol, kurze Zeit später hat dieselbe Masse keine Skrupel, dieses Idol in den Boden zu stampfen. All das Gute, das getan wurde, ist vergessen, es zählt nur noch der blanke Hass.

Wir Christen, die wir jedes Jahr Palmsonntag, Karwoche und Ostern feiern, müssten es eigentlich besser wissen, wenn es darum geht, uns über andere ein Urteil zu bilden. Wird ein Mensch umjubelt, muss das gar nichts heißen, genauso, wenn ein Mensch verurteilt wird.

Jesus Christus hat uns schon in der Bergpredigt davor gewarnt: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Das bedeutet: Bevor ihr euch über einen Menschen eine Meinung bildet, schaut genau hin und fragt euch, kann es nicht auch ganz anders sein. Stimmt das wirklich, was die Masse schreit, was die Medien berichten. Wisst ihr um die Motive, die Hintergründe genau Bescheid, oder gebt ihr einfach ungeprüft weiter, was alle anderen sagen?

Der heilige Franz von Sales hat übrigens gemeint, dass „ein großer Teil“ aller Sünden durch die „üble Nachrede“ entstehen, also dadurch, dass ich einfach nachplappere, was ich irgendwo gehört habe, ohne deren Wahrheitsgehalt vorher zu überprüfen. „Wer die üble Nachrede aus der Welt schaffen könnte,“ schreibt er in der Philothea“, der „hätte sie von einem großen Teil der Sünden und der Bosheit befreit.“ (DASal 1,179)

Jesus Christus wurde das Opfer der üblen Nachrede – und der Palmsonntag ist das mahnende Beispiel für uns, dass wir sehr aufpassen sollten, bevor wir über andere ein Urteil fällen. Der Unterschied zwischen „Hosianna“ und „Kreuzige ihn“ ist viel zu klein, als dass ich allzu sorglos in meinem Urteilen über andere sein dürfte.

Der Palmsonntag ist ein guter Anlass einmal innezuhalten und uns zu fragen: Wie bilde ich mir meine Meinung über andere? Rede ich einfach nach, was ich von anderen höre, oder überprüfe ich auch, ob etwas tatsächlich stimmt? Im Zeitalter von Fake News, Alternativen Fakten, Facebook, Twitter und Internet sind solche Fragen eigentlich wichtiger denn je.

Ein mahnendes Wort aus einer Predigt des heiligen Franz von Sales möge uns dabei begleiten: „Ein großer Teil des Unheils bei den Christen [kommt] heute daher, dass sie denen glauben, denen sie nicht glauben dürfen, und dass sie jenen nicht glauben, denen sie glauben müssen: Die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht (Joh 3,19).“ (DASal 9,35). Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS