Predigt zum Karfreitag (Joh 18,1-19,42)

Das Schweigen Gottes

Mit dem Tod Jesu beginnt die Zeit des heiligen Schweigens. Nach der Kreuzigung Jesu verharrt die Kirche in einer Art Schockstarre, zunächst vor dem Kreuz, dann vor dem Heiligen Grab. Ihr Gebet ist Schweigen.

Wir können diese Dramatik der Liturgie sicher gut nachvollziehen. Wir brauchen nur daran zu denken, wie es uns ergangen ist, als wir beim Sterben und Tod eines Menschen dabei waren oder davon erfahren habe.

Wir brauchen nur an die Opfer von Gewalt und Krieg zu denken, die sich wie eine endlose Blutspur durch die Geschichte der Menschheit zieht und einfach nicht aufhört.

Oder an die Opfer von Naturkatastrophen, die die Erde immer wieder erschüttern – oder an die gnadenlose Zerstörung der Natur durch die Hand des Menschen, dessen Gier nach Profit vor keiner Grenze Halt machen will.

Da bleibt einem jedes Wort im Hals stecken …

Der Karfreitag gibt uns auch das Recht dazu, wenn wir uns die Leidensgeschichte Jesu vor Augen führen, die Finsternis seines Todes, sein Schrei am Kreuz: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Der englische Schriftsteller Gilbert Chesterton meinte deshalb einmal: „Sollten Atheisten doch einmal eine Religion brauchen, dann empfehle ich ihnen das Christentum, denn in dieser Religion war Gott für einen Augenblick Atheist.“ … nämlich beim Gebet des Gekreuzigten: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen.“

In unserem Glaubensbekenntnis bekennen wir jedes Mal unseren Glauben an Jesus Christus, der „hinabgestiegen ist in das Reich des Todes.“ Was hier mit wenigen einfachen Worten zum Ausdruck gebracht wird, die wir oft gar nicht wahrnehmen, besagt nichts anderes, als das Jesus Christus die Gottverlassenheit und Finsternis des Todes durchlebte – und damit die große Warum-Frage stellvertretend für die gesamte Menschheit ausgehalten hat.

Das bedeutet: Wenn wir keine Antwort wissen, wenn uns das Leid erdrückt, wenn uns Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit quält, wenn die Finsternis alles Licht in unserem Leben zudeckt … dann haben wir immer noch Jesus Christus, der mit uns oder für uns betet: „Mein Gott, warum …“

Unsere Aufgabe am Karfreitag und am Karsamstag besteht darin, gemeinsam mit Jesus Christus das Schweigen Gottes auszuhalten, die Sprachlosigkeit – und nicht gleich zu sagen: Ja aber, da ist doch noch mehr …

Der eigentliche Karfreitagspsalm ist daher nicht der Psalm 22 – „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – sondern der Psalm 88. Im Stundengebet der Kirche bildet dieser Psalm 88 jede Woche am Freitag den Abschluss des Tages. Und dieser Psalm endet mit dem Satz: „Mein Vertrauter ist nur noch die Finsternis“.

Es geht nicht darum, am Karfreitag ob des vielen Elends und der vielen Ungerechtigkeit auf dieser Welt in Depression zu geraten, sondern es geht darum, zu erkennen, dass im Glauben der Christen aufgrund unseres gekreuzigten Jesus Christus die Gottverlassenheit und die Warum-Frage, also der nur allzu verständliche Zweifel an einen gütigen und liebenden Gott zum Gebet wird.

Wer am Grab steht und nicht begreift, warum Gott so etwas zulassen kann, ist genauso ein Glaubender, wie jener, der sich angesichts von Leid und Tod voll Vertrauen in die Hände Gottes fallen lassen und sagen kann: „Es ist vollbracht … in deine Hände, mein Gott, empfehle ich meinen Geist.“

„Erfasst die Weisheit des Kreuzes“ (DASal 2,342), sagte der heilige Franz von Sales. Und „Der sicherste Weg der Frömmigkeit läuft zu Füßen des Kreuzes.“ (DASal 6,102). Er meinte damit natürlich, dass wir im Angesicht des Gekreuzigten auch im Leid Mut und Kraft schöpfen können, weil Christus durch das Kreuz den Tod und die Sünde besiegte. Bei der „Weisheit des Kreuzes“ geht es aber auch darum, den Schrei der Atheisten zu hören und das Schweigen Gottes zu erkennen und auszuhalten … Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS