Predigt zum Fest Allerheiligen (Mt 5,1-12a)

Ein bisschen heilig

Vor einigen Jahren, vor dem Fest Allerheiligen, hatte die Redaktion einer deutschen Kirchenzeitung eine besondere Idee. Sie schickte einen Reporter auf die Straße, um verschiedenen Menschen eine einzige Frage zu stellen: „Kennen Sie jemanden, der ein bisschen heilig ist?“ Am Anfang, so schilderte dieser Reporter, gab es bei dieser Frage ein Problem. Manche wussten mit dieser Frage gar nichts anzufangen. Andere lachten nur darüber und meinten: sie kennen nur normale Menschen. Die Situation änderte sich jedoch, als eine Frau diese Frage ernst nahm und sagte: „Ja, ich glaube ich kenne so einen Menschen. Unsere Nachbarin. Ihr Mann ist nierenkrank und sie muss mit ihm jede Woche ins Krankenhaus fahren. Trotz ihrer Probleme ist sie aber immer freundlich und zuvorkommend.“ Ja, und plötzlich nahmen auch die anderen Befragten diese Frage ernst und entdeckten in ihrer Umgebung Menschen, die „ein bisschen heilig sind.“ Von Schicksalsschlägen wird berichtet, die geduldig und tapfer getragen werden; von Hilfsbereitschaft, Zeithaben, von Freundlichkeit und Geduld, die man durch Menschen tagtäglich erfährt. Und endlich wagen diese befragten Menschen auch zu sagen: „Ja, die könnten ein bisschen heilig sein.“

Fast jeden Tag im Jahr begeht die Kirche den Gedenktag eines großen Heiligen, der bekannt und berühmt ist und der entweder durch die überwältigende Verehrung und dann durch einen besonderes kirchenrechtliches Verfahren heilig oder selig gesprochen wurde. Einmal im Jahr aber, nämlich am Fest Allerheiligen, wird an alle Heiligen gedacht, und besonders einmal auch an jene, die in ihrem Leben „ein bisschen heilig waren und sind“, die also im Verborgenen, im Stillen, im Kleinen das verwirklichen, was uns Jesus Christus in den Seligpreisungen (Mt 5,1-12) deutlich macht: Selig, heilig sind die, die arm sind vor Gott, die Trauernden, diejenigen, die keine Gewalt anwenden, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, die Barmherzigen, diejenigen, die ein reines Herz haben, die Friedensstifter und die um der Gerechtigkeit willen verfolgten. „Freut euch und jubelt,“ ruft diesen Jesus Christus zu, „Euer Lohn im Himmel wird groß sein!“ Solcher Menschen gedenken wir heute, die nicht groß in der Öffentlichkeit wirken, sondern heilig sind im Kleinen, also „ein bisschen heilig sind“. Und wir erinnern uns auch wieder einmal daran, dass wir alle durch die Taufe geheiligt sind und den Auftrag haben, Heilige zu werden. Auch dabei geht es zuerst nicht um besondere Großtaten, sondern um die kleinen Zeichen von Menschlichkeit, die unsere Welt so notwendig braucht.

Der heilige Franz von Sales war überzeugt davon, dass jeder Getaufte heilig ist und dort, wo er lebt und arbeitet, heilig werden kann. Dafür hat er sein berühmtes Buch „Philothea“ geschrieben, eine Anleitung zum frommen, also heiligen Leben. Und er rät uns dafür vor allem den Weg der kleinen Schritte. Das ist seine Methode zur Heiligkeit: jeden Tag neu anfangen und jeden Tag einen weiteren kleinen Schritt gehen, um ein bisschen heilig zu leben. Das, so sagt er, ist der sicherste Weg zur Vollkommenheit: Wir müssen immer wieder beginnen und zwar gerne wieder beginnen (DASal 5,272).

Jeden Tag ein bisschen mehr heilig werden, dort, wo wir leben und arbeiten, jeden Tag neu anfangen, ohne Aufhebens, im Kleinen, im Stillen, und das Ziel – für das wir bestimmt sind – nicht aus den Augen verlieren, nämlich das Ewige Leben in Gottes liebender Gegenwart … genau daran erinnert uns das heutige Fest Allerheiligen. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS