Predigt zum 7. Sonntag im Jahreskreis (Mt 5,38-48)

Was traue ich der Liebe zu?

Immer, wenn einem für die Predigt nichts Richtiges einfällt, gibt es noch eine Rettung. Man holt sich schlaue Predigtbücher, in denen man gute Ideen finden kann. Mittlerweile gibt es ja solche Predigtvorschläge auch im Internet. Nun ist mir bei den Predigtangeboten für den heutigen Sonntag zum gerade gehörten Evangelium folgendes Interessante aufgefallen. Jeder Vorschlag beginnt eigentlich mit einem Stoßseufzer. Einer schreibt zum Beispiel: „Wie ein Hammer traf mich dieser Text, in dem Jesus fast unzumutbare Forderungen stellt.“ Ein anderer schreibt: „Wir sind wohl alle geschockt! Die unbestreitbar außergewöhnlichen Forderungen Jesu übersteigen die normalen sittlichen Kräfte der allermeisten Menschen.“ Ich denke, das ist alles ein wenig übertrieben. Ich glaube nämlich nicht, dass sich heute irgendjemand von uns vom Hammerschlag getroffen fühlte, als er das Evangelium hörte, geschockt scheinen wir auch nicht zu sein. Die Hammer- und Schockwirkung der Worte Jesu scheint aber trotzdem bei allen Predigtvorschlägen im Vordergrund zu stehen. Eine Ausnahme gab es allerdings auch. In dieser fängt der Autor nicht mit einem Stoßseufzer an, sondern mit einer Frage. Er fragt seine Zuhörerinnen und Zuhörer: „Was trauen Sie eigentlich der Liebe zu?“ Diese Frage hat mich wirklich überrascht und stutzig gemacht, außerdem ist es eine zutiefst salesianische Frage – also ganz im Sinne des heiligen Franz von Sales: Was traue ich der Liebe zu? Und diese Frage öffnet eine neue Tür zum Geheimnis der großen Forderungen und Herausforderungen Jesu aus dem heutigen Evangelium.

Liebe ist ja mehr als zartes Erröten. Sie ist nichts Sentimental-Romantisches, ein träumerisches Gefühl. Liebe trägt in sich die Kraft und die Macht zur Vollkommenheit. Wer liebt tut mehr als das Minimum, mehr als das, was von ihm gefordert oder verlangt wird. Liebe tut nicht nur das unbedingt Notwendige, geht nicht nur bis zur Grenze des Möglichen, sie sucht und versucht auch das Unmögliche. Oder, wie es Franz von Sales einmal kurz und bündig zum Ausdruck brachte: „Setze der Liebe keine Schranken“ (DASal 2,67).

Wenn uns nun Jesus sagt, viel mehr tun zu sollen, als Gesetze und Gebote uns vorschreiben, dann macht er uns genau auf diese mächtige Liebe – diese schrankenlose Liebe – aufmerksam, diese Liebe, die vollkommen sein will wie der himmlische Vater.

Wenn uns Jesus Christus auffordert, auch die andere Wange hinzuhalten, nicht nur das Hemd, sondern auch den Mantel herzugeben, nicht nur eine, sondern zwei Meilen zu gehen, nicht nur die Freunde, sondern auch die Feinde zu lieben, dann traut er uns allen auch zu, dass wir mit der Kraft der Liebe scheinbar Unmögliches verwirklichen können. Jesus setzt uns ein Ideal, ein großes Ziel, nicht um uns zu zeigen, wir schwach und unfähig wir doch alle miteinander sind. Er tut es, um auf unsere Fähigkeiten hinzuweisen, die in jedem von uns stecken, Fähigkeiten, deren Geheimnis die Liebe ist, die Gott in jedem Menschen angelegt hat.

Jesus zeigt mit seinen Forderungen auch seine eigene Liebe zu uns Menschen. Er macht deutlich, dass wir ihm nicht egal sind. Wir sind ihm nicht gleichgültig, sondern er liebt uns und möchte uns fordern und fördern. Von einem Menschen, der uns egal ist, erwarten wir wenig oder gar nichts, und wir verlangen von ihm auch nicht viel. Bedeutet uns ein Mensch etwas, dann wollen wir diesen Menschen auch fördern, und wir tun es, in dem wir ihn herausfordern und damit Kräfte freilegen, die er sich anders vielleicht selbst nie zugetraut hätte.

Das heutige Evangelium ist also kein Hammerschlag. Wir brauchen auch nicht geschockt darüber zu sein. Wir sollten uns vielmehr darüber freuen, dass uns Jesus so sehr liebt, dass er uns zutraut, vollkommen zu werden. Und diese Vollkommenheit besteht eben auch darin, sich auch einmal auf scheinbar Unmögliches, wie eben die Feindesliebe, einzulassen. „Setzen wir also der Liebe keine Schranken“ – Lieben wir so vollkommen, wie unser himmlischer Vater – uns selbst, unsere Mitmenschen – und ja, auch unsere Feinde. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS