Predigt zum 5. Fastensonntag (Joh 11,3-7. 17. 20-27. 33b-45)

Die Weisheit des Kreuzes

„Erfasst die Weisheit des Kreuzes“, sagte einmal der heilige Franz von Sales. Der fünfte Fastensonntag ist dazu eine gute Gelegenheit. Mit dem heutigen Sonntag, dem Passionssonntag, dem Sonntag des Leidens, beginnt sozusagen die „heiße Phase“ der Fastenzeit. Unser Blick, der bisher mehr auf uns gerichtet war, auf Bekehrung und Umkehr, Fasten und Verzicht, wendet sich nun auf Jesus Christus, auf sein Leiden und Sterben, auf seinen Tod am Kreuz.

Das heutige Evangelium bereitet uns darauf vor. Wir nehmen an einem Begräbnis teil. Lazarus ist tot. Es ist ein tragisches, dramatisches Begräbnis. Lazarus war ein Freund Jesu. Er war also dreißig Jahre alt und starb unerwartet, nach einer schweren, kurzen Krankheit. Er hinterlässt zwei Schwestern, Marta und Maria, für die er als Familienältester zu sorgen hatte. Nun stehen sie völlig allein da. Zwei junge Frauen ohne Mann – das war zur damaligen Zeit eine echte Katastrophe. Wir müssen uns in diese Situation hineindenken, damit wir das ganze Drama erfassen. Hier wurde ein junges Leben ausgelöscht, hier ist eine Welt zusammengebrochen, zwei Frauen stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Existenz, in der es keine Zukunft mehr zu geben scheint.

Wie dramatisch die Situation ist, macht uns ein einziger Satz deutlich: „Da weinte Jesus“. Es ist die einzige Stelle in der gesamten Bibel, in der Jesus weint – „im Innersten erregt und erschüttert“. Die Juden, die das sahen, sagten: „Seht, wie lieb er ihn hatte.“

Denken wir einmal an unsere eigenen Erfahrungen mit dem Tod. Wo sind wir ihm in unserem Leben schon begegnet: an einem Sterbebett, auf dem Friedhof, bei einem Begräbnis, in der Zeitung, im Fernsehen, auf der Straße, bei einem Unfall. Wie haben wir den Tod erlebt? Was hat er mit uns gemacht? Der Tod hat viele Gesichter. Jeder Grabstein auf einem Friedhof, jeder Gedenkstein, jedes Denkmal zeigt uns ein anderes Gesicht des Todes. Bei Lazarus begegnen wir dem Tod in seiner unerbittlichen Endgültigkeit: die Grabeshöhle ist mit einem Stein verschlossen, der Leichnam riecht schon, die Verwesung geht seinen Lauf. Nichts mehr zu machen. Ende, aus, tot. Keine Chance mehr.

Die einzige Hoffnung, die noch bleibt, ist Jesus Christus. Diese Botschaft ist jene Botschaft, die wir Christen jedem Tod ins Angesicht schleudern dürfen: „Jesus ist die Auferstehung und das Leben. Wer an ihn glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder der lebt und an ihn glaubt, wird auf ewig nicht sterben.“

Die schwedische Schauspielerin und Sängerin Zarah Leander hat das einmal auf den Punkt gebracht. Sie meinte: „Was ich an den Christen am meisten bewundere, ist die Tatsache, dass sie auch dann noch etwas zu sagen haben, wenn andere schweigen, nämlich am Grab.“

Wenn wir sprachlos sind, wenn uns der Tod, egal in welcher Gestalt er uns begegnet, stumm gemacht hat, dann dürfen wir Christen doch noch etwas sagen: „Wer glaubt, wird leben in Ewigkeit“. Der Tod ist nicht das Ende, sondern das Ziel – und nach dieser Ziellinie erwartet uns die Vollendung in Herrlichkeit, in der liebenden Gegenwart Gottes.

Genau diese Weisheit erkennen wir im Blick auf das Kreuz: Jesus hat durch sein Leiden und Sterben am Kreuz den Tod besiegt. Er holt uns heraus aus unseren Gräbern und schenkt uns das Leben in Fülle.

„Erfasst die Weisheit des Kreuzes“ ruft uns heute der heilige Franz von Sales zu. Jesus sagt: „Lazarus, komm heraus!“ Darüber wieder einmal nachzudenken, wäre eine gute Übung für die kommende Woche … wir könnten tatsächlich wieder einmal einen Friedhof besuchen, das Familiengrab, das Grab eines Bekannten oder Freundes und über die Gesichter des Todes nachdenken und über die Hoffnung, die Jesus Christus uns geschenkt hat durch sein Leben, sein Leiden, seinen Tod am Kreuz. Jesus Christus ist die Auferstehung und das Leben – wer an ihn glaubt wird in Ewigkeit nicht sterben. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS