Predigt zum 29. Sonntag im Jahreskreis (Mk 10,42-45)

Die Versuchung der Macht

Die Versuchung der Macht ist sicher die größte Versuchung, der der Mensch zu widerstehen hat. Das hat Jesus selbst am Beginn seines öffentlichen Wirkens in der Wüste erfahren müssen, als ihm der Teufel alle Reiche der Welt zeigte und sagte: „Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest“ (Mt 4,9).

Jesus ging einen anderen Weg, wie uns die heutige Stelle des Evangeliums berichtet: „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein … Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein … wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“

Wir leben Gott sei Dank in einem Land, in dem die Macht der Mächtigen durch die verschiedenen demokratischen Strukturen der Gewaltentrennung im Großen und Ganzen ganz gut kontrolliert wird. In sehr vielen Ländern ist das nicht der Fall, und ständig wird versucht, die eingeführten Kontrollmechanismen der Macht zu unterwandern. Die Kirche braucht dabei nicht auf die anderen zu zeigen. Auch sie ist im Laufe ihrer Geschichte viel zu oft, dieser Versuchung der Macht unterlegen. Hoffentlich lernen wir jetzt – nach dem Supergau des sexuellen Missbrauchs, der ja nichts anderes ist als Machtmissbrauch – dass es im Christentum nur eine wahre Machtausübung gibt: „Wer bei euch der erste sein will, soll der Sklave aller sein“. Alles andere ist Machtmissbrauch.

Als Jesus vor Pilatus stand und schwieg, sagte Pilatus: „Du sprichst nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen?“ Und dann sagte Jesus: „Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre.“

Auch das sollte uns allen immer klar sein, vor allem, wenn wir von der Macht versucht werden: Gott allein ist der Allmächtige, niemand sonst, kein Papst, kein Präsident, kein Volk, keine Kirche und keine Religion. Alle Macht, die wir haben, ist uns entweder von Gott gegeben, und daher auch so zu gebrauchen, oder sie ist vom Bösen.

Die Versuchung der Macht spielt sich allerdings nicht nur in der großen weiten Welt- und Kirchenpolitik ab. Sie existiert genauso im Kleinen: in der Pfarrgemeinde, in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Fußballstadion. Gegen die Machtallüren der Großen können wir oft nichts ausrichten, aber der Versuchung der Macht im Kleinen zu widerstehen, dazu sind wir alle jeden Tag aufgerufen. Auch da gilt: Wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Und solche Versuchungen sind ziemlich häufig und haben unterschiedlichste Namen, wie etwa Mobbing, Ausgrenzung, Fake News, Gerede, den anderen schlecht machen … Das sind nur einige Hinweise darauf, dass Machtmissbrauch in unserer kleinen Alltagswelt gang und gäbe ist.

Wer der Sklave aller ist, der verschwindet oft von der Bildfläche. Er dient meist im Verborgenen, oft unbeachtet. Und trotzdem tut er mehr und Größeres als die meisten all jener, die ständig im Rampenlicht stehen. Darauf weist auch der heilige Franz von Sales hin, der schreibt: „Die Liebe ist eine Obrigkeit, die ihre Macht ohne Lärm, ohne Aufseher und Polizisten ausübt.“ (DASal 4,80). Und hier wird auch deutlich, wie wir der Versuchung der Macht entkommen können, nämlich durch die Liebe. „Ihr steht im christlichen Gesetz die Fülle der Macht zu, so wie geschrieben steht: Die Liebe vermag alles“ (DASal 4,92).

Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS