Predigt zum Pfingstfest (Joh 15,26-27;16,12-15)

Der Geist der Wahrheit

Was ist Wahrheit? Diese berühmte Frage, die Pilatus an Jesus richtete, bevor er ihn zum Tod verurteilte, hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt.

Da braucht man nur nach einem Fußballspiel die Leute fragen, wie sie das Spiel erlebten. Die einen werden sagen: Das Spiel war gut, die anderen das Spiel war schlecht; das Tor hätte nicht zählen dürfen, denn es war abseits; das Tor war ganz regulär, der Schiedsrichter war ungerecht, oder er hat alles richtig gemacht; und so weiter und so weiter. Man bekommt also eine ganze Sammlung an unterschiedlichen Wahrheiten zu hören.

Gleiches gilt für die Weltnachrichten. Der eine sagt: wir wurden zuerst angegriffen, der andere: wir wollen nur den Frieden. Der eine sagt: wir haben Beweise, der andere: das ist alles Lüge und Propaganda. Wir haben nichts getan, eine unabhängige Kommission soll das überprüfen.

Es kommt eben auf die Perspektive an: die einen sehen die Wahrheit so, die anderen sehen sie ganz anders. Wahr ist meistens nur das, was mir nützt, mir Vorteile bringt. Wahrheit wird missbraucht, um mich selbst in ein besseres Licht zu stellen, meine Position zu festigen – und wenn es nicht anders geht, dann wird eben sogar die Lüge zur Wahrheit, was man heute allerdings nicht mehr Lüge, sondern „alternative Fakten“ nennt.

Das alles ist nichts Neues, sondern gab es schon immer. Der heilige Franz von Sales zum Beispiel musste das kurz nach seiner Bischofsweihe erleben. Da gab es einen Angriff auf die Stadt Genf, die so genannte „Escalade von Genf“. Bis heute hält sich das Gerücht, dass Franz von Sales selbst hinter diesem Angriff steckte, obwohl längst nachgewiesen wurde, dass er damit nichts zu tun hatte. Franz von Sales setzte sich für den Frieden ein, aber nicht mit Waffengewalt, sondern mit Hilfe des Dialogs, der Sanftmut und des Gebetes. Seine Gegner aber sagen: Dieser Angriff war seine Idee.

An all diesen Beispielen erkennen wir, wie wichtig für uns, für die Kirche und für die ganze Welt das Pfingstfest ist, in dem uns der Heilige Geist, der Geist der Wahrheit, geschenkt wurde. Er ist der Garant dafür, dass sich schließlich und endlich die Wahrheit durchsetzen wird, trotz aller Versuche, sie aus Eigennutz und Eigeninteresse zu verbiegen oder mit Füßen zu treten.

„Der Geist der Wahrheit wird euch in die ganze Wahrheit führen“, verspricht Jesus. „Er wird sagen, was er hört, und verkünden, was kommen wird.“

Das Pfingstfest wird damit auch zu einem hochpolitischen Fest, weil es uns deutlich macht, dass wir mit der Wahrheit verantwortungsvoll umgehen müssen, weil diese Wahrheit etwas Göttliches ist. Sie geht von Gott aus und wir sind dazu berufen, Zeugnis für die Wahrheit abzulegen.

Das setzt natürlich voraus, dass wir ständig auf der Suche nach der Wahrheit bleiben, und nicht sofort alles glauben, was uns als Wahrheit präsentiert wird. Es setzt voraus, dass wir bereit sind, um der Wahrheit willen nichts zu verschweigen, zu vertuschen oder zu beschönigen. Und es setzt voraus, seine Schuld einzugestehen, wenn wir einmal gelogen haben, nur die Halbwahrheit sagten oder ein Gerücht einfach weitererzählten, ohne dieses überprüft zu haben.

Der heilige Franz von Sales behauptete einmal, wenn wir all das, was mit einem sorglosen und zweifelhaften Umgang mit der Wahrheit zu tun hat, aus der Welt schaffen könnten, dann hätten wir die Welt von einem Großteil aller Sünden befreit.

Als Christen sind wir dazu berufen, Zeugnis für die Wahrheit zu geben. Der Heilige Geist ist uns dazu als Beistand geschenkt, um diesem Auftrag nachkommen zu können. Die Gaben des Heiligen Geistes helfen uns dabei: Weisheit, Rat und Stärke, Erkenntnis und Einsicht, Frömmigkeit und Gottesfurcht. Unsere Aufgabe ist es, pfingstlich zu leben, also als Geistbegabte, die dazu beitragen, dass die Welt die Wahrheit erkennt. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS