Predigt zum Fest Heilige Familie (Lk 2,22.29-40)

Der ganz normale Alltag

Das Haus in Nazaret, in dem Jesus bei seiner Familie aufwuchs, hat die Menschen so sehr fasziniert, dass daraus sogar die Legende entstand, dieses Haus in Nazaret sei von Engeln nach Loreto in Italien gebracht worden, damit es nach der Niederlage der Kreuzfahrer nicht zerstört werde. Und dort in Loreto hat sich seither einer der beliebtesten Wallfahrtsorte gebildet. Loreto ist jedenfalls der zweitwichtigste Wallfahrtsort in Italien, gleich nach dem Petersdom.

Auch der heilige Franz von Sales war von diesem Heiligen Haus fasziniert. Sicher ist, dass er wenigstens zweimal in seinem Leben nach Loreto pilgerte und diesen Wallfahrtsort besuchte.

Was ist daran so faszinierend? Dieses kleine Haus – 9 Meter lang, 4 Meter breit und 5 Meter hoch – symbolisiert praktisch 90 Prozent des gesamten irdischen Lebens Jesu. Drei Jahre lang wirkte Jesus Christus öffentlich in Israel, er predigte, lehrte, wirkte Wunder. Dreißig Jahre lang aber lebte er das verborgene, einfache Leben bei seinen Eltern im Haus von Nazaret. Das Evangelium beschreibt diese dreißig Jahre praktisch in zwei Sätzen: „Sie kehrten nach Galiläa in ihre Stadt Nazaret zurück. Das Kind wuchs heran und wurde kräftig. Gott erfüllte es mit Weisheit, und seine Gnade ruhte auf ihm.“

Das ist faszinierend, weil es so einfach, so normal, so alltäglich ist – und damit so viel gemeinsam hat mit uns selbst. Kaum eine Stelle aus der Heiligen Schrift macht uns so deutlich, dass Jesus Christus, der Sohn Gottes, wirklich ganz und gar einer von uns war und ist. Dreißig Jahre lang war er Teil einer ganz gewöhnlichen jüdischen Familie, der Sohn eines Zimmermanns, in einem bescheidenen Haus in einem kleinen Dorf namens Nazaret. Nichts für die Evangelien Erwähnenswertes geschah, außer eben, dass Gott ihn mit Weisheit erfüllte und seine Gnade auf ihm ruhte.

Das Meiste in unserem Leben verläuft ähnlich unspektakulär, das Meiste in unserem Leben ist schlicht und einfach nur Alltag. Aber genau auf diesen Alltag kommt es an – genau das möchte uns das Fest der Heiligen Familie ins Bewusstsein rufen: Gottes Gegenwart in den ganz normalen alltäglichen Rhythmen unseres Lebens am Morgen, zu Mittag, am Abend und in der Nacht. So würde es der heilige Franz von Sales formulieren: „Gott ist in allem und überall; es gibt keinen Ort und kein Ding, wo er nicht wirklich gegenwärtig wäre“ (DASal 1,73).

Wir meinen nur allzu oft, Glaube müsste spektakulär sein, es müssten Wunder geschehen, große Visionen und Erscheinungen, zumindest herausragende Leistungen … viele Gebete, viel Nächstenliebe, große Opfer bringen … das Haus von Nazaret und die Heilige Familie aber sprechen eine andere Sprache. Es bedarf nichts Außergewöhnliches, das wirklich Außergewöhnliche ist die einfache, stille, unscheinbare, verborgene Gegenwart Gottes mitten unter uns, seine Gnade, die auf uns ruht.

Es ist so schade, dass wir dieses Wort „Gnade“ nicht mehr verstehen. Gnade bedeutet Geschenk. Gnade ist das Geschenk Gottes für mich – seine Liebe, seine Gegenwart, die mich umgibt, die mich trägt, die mich behütet, die mich atmen lässt und mir jeden Tag von Neuem die Kraft gibt, den Tag zu leben.

Sich dieser Gnade, dieses Geschenkes Gottes – seiner Gegenwart inmitten unseres alltäglichen Lebens wieder bewusst zu werden, dazu möchte uns das Fest der Heiligen Familie anregen. Gott ist da, wie die Luft die wir atmen, wir sehen sie nicht, aber ohne sie könnten wir nicht leben. Gott ist da, wie das sanfte Licht einer Kerze, das den Raum erhellt, wie die leisen Töne, die so leicht überhört werden, aber dennoch die Stille mit Klang erfüllen.

Wir müssen nicht nach Loreto pilgern, um uns der Gegenwart Gottes und seiner Gnade, die auf uns ruht, bewusst werden zu können. Ein Blick in unseren Alltag genügt, um den liebenden Blick Gottes über unserem Leben zu erkennen und zu erspüren. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS