Predigt zum 5. Sonntag der Osterzeit (Joh 13,31-33a. 34-35)

Liebt einander in kleinen Schritten

Im Jahre 1610 gründete der heilige Franz von Sales in seiner Bischofsstadt Annecy eine Ordensgemeinschaft, die Schwestern von der Heimsuchung Mariens – heute auch Salesianerinnen genannt.

Franz von Sales hatte für diese neue Schwesterngemeinschaft auch eine ganz neue Idee. Er wollte, dass seine Klosterschwestern bei ihrem Klostereintritt nicht wie üblich die klassischen drei Gelübde der Armut, Ehelosigkeit und des Gehorsams versprechen, sondern nur ein einziges Gelübde, nämlich das Gelübde der Liebe. Er meinte, dass in diesem einen Gelübde der Liebe alle anderen Gelübde enthalten sind, und auch alles, was für das Leben im Kloster wichtig ist.

Mit dieser Idee wollte Franz von Sales eigentlich genau das verwirklichen, was Jesus Christus seinen Jüngern kurz vor seinem Tod beim letzten Abendmahl mit auf den Weg gegeben hat: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“

Leider waren weder die ersten Christen, noch die Verantwortlichen der Kirche 1600 Jahre später in der Lage, dieses neue und so einfach formulierte Gebot der Liebe, dieses neue und so einfache Gelübde der Liebe auch zu verstehen und umzusetzen. Franz von Sales musste bei seiner Schwesterngemeinschaft zu den drei traditionellen, klassischen Gelübden zurückkehren – und aus dem neuen Gebot Jesu „Liebt einander“ wurde im Laufe der Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte ein umfassendes Werk an Gesetzen, Vorschriften, Normen, Richtlinien, Anweisungen und Ratschlägen. Offenbar tut sich der Mensch sehr schwer damit, wenn etwas einfach und klar formuliert wird. Er braucht es komplizierter, damit er es leichter versteht.

Und dabei wäre unser Glaube, unsere Religion, die Botschaft Jesu Christi so einfach: „Liebt einander.“ Das sind nur zwei Worte, die sich eigentlich jede und jeder ganz leicht merken kann. Und diese zwei Worte machen alles aus, was Christsein, was Kirche bedeutet. Daran – so sagt Jesus – werden ALLE erkennen, dass ihr meine Jüngerinnen und Jünger seid: wenn ihr einander liebt.

Ich denke, euch geht es jetzt genauso wie mir, genauso wie auch den Jüngerinnen und Jüngern damals und sämtlichen Verantwortlichen der Kirche durch die Jahrhunderte. Es stellt sich nämlich sofort die Frage: „Ja, was heißt das jetzt genau, was heißt das konkret, was muss ich da jetzt tun?“ Und so werden eben aus diesen beiden sehr einfachen, leicht zu merkenden Worte „Liebt einander“ eben eine ganze Menge, und teilweise auch ziemlich komplizierte Erklärungen.

Dennoch besteht unsere alltägliche Herausforderung als Christinnen und Christen von heute darin, wie ich das „Liebt einander“, das Jesus uns aufgetragen hat, in meinem Leben konkret umsetze, damit eben alle erkennen, dass ich eine Jüngerin, ein Jünger Jesu bin.

Franz von Sales ist ja der Meister der kleinen Schritte. Er will niemanden überfordern, aber er fordert jede und jeden heraus, den kleinen Schritt auch tatsächlich zu gehen, den er sich zutraut. Also: Welchen Schritt traue ich mir in meinem Leben zu, damit das Gebot Jesu „Liebt einander“ in meinem Leben, in meiner Umgebung verwirklicht wird? Und diesen Schritt soll ich dann auch wirklich gehen … und am nächsten Tag dann den nächsten Schritt machen und so weiter.

Und wie heißt es so schön in einem afrikanischen Sprichwort? „Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, dann werden sie das Gesicht der Welt verändern.“ Oder: Wenn viele Christinnen und Christen in vielen kleinen Schritten versuchen, einander zu lieben, dann werden sie die Welt verändern. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS