Predigt zum 5. Fastensonntag (Joh 8,1-11)

Zeit der Liebe

Der heilige Franz von Sales befasst sich in seinem berühmten Buch Philothea-Anleitung zum frommen Leben sehr ausführlich mit dem Thema „Richten, Urteilen, Verurteilen und dem lieblosen Reden über andere“. Offenbar war das auch zu seiner Zeit schon ein heißes und beliebtes Thema.

Bei der Episode aus dem Evangelium, das wir gerade gehört haben, geht es nicht um die Frage, wie wir uns Ehebrechern gegenüber verhalten sollen. Es hätte genauso ein Gotteslästerer, ein Dieb, ein Mörder oder Lügner sein können, den man auf frischer Tat ertappte und vor Jesus zerrte. Der springende Punkt dieser Episode ist das Richten, Urteilen und Verurteilen. Die Pharisäer wollen Jesus eine Falle stellen. Spricht er einen eindeutig Schuldigen frei, dann handelt er gegen das Gesetz, verurteilt er ihn, dann ist seine viel gepriesene Barmherzigkeit mit den Sündern entlarvt: Der große, barmherzige Jesus, dem alle nachlaufen, ist auch nicht besser als alle anderen. Jesus reagiert auf diese Falle mit dem berühmten Wort: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“. In seiner Bergpredigt formuliert er noch klarer und deutlicher: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet … Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken im eigenen Auge aber siehst du nicht.“ Also: Gott allein steht es zu, über einen Menschen ein Urteil zu sprechen, niemandem sonst, denn Gott allein hat den Einblick und Überblick, den es braucht, um ein wirklich gerechtes Urteil zu fällen. Damit setzt Jesus kein einziges Gebot oder Gesetz außer Kraft, im Gegenteil, er erfüllt es eigentlich erst richtig, und er weist alle auf die große Gefahr hin, sich selbst zum Richter über andere aufzuspielen.

Eigentlich tun wir das aber ständig. Ich bin letzte Woche mal in der Straßenbahn gesessen und habe mir ganz bewusst, die Menschen angeschaut, die da mit mir im Waggon waren. Und interessant: Fast automatisch fällte ich über jeden Menschen ein Urteil. Der eine machte auf mich einen sympathischen Eindruck, die andere wirkte unsympathisch, obwohl ich keinen einzigen von ihnen auch nur annähernd kannte. Gleiches gilt für alle möglichen Informationen, die täglich auf mich einströmen. Jedes Mal fälle ich ein Urteil. Das eine gefällt mir, das andere nicht, da bin ich dafür, da stimme ich dagegen. Ich höre etwas und bilde mir eine Meinung. All das geschieht mehr oder weniger automatisch. Ich werfe zwar meistens keine Steine, aber ich werfe Worte, zumindest in meinem Kopf, in meinen Gedanken. Ich kann das alles gar nicht verhindern, und daher weist der heilige Franz von Sales auch darauf hin, dass wir beim Gebrauch unserer Zunge sehr vorsichtig sein sollen, vor allem wenn wir über andere reden, andere kritisieren oder tadeln. Dazu gibt der heilige Franz von Sales folgenden, im wahrsten Sinne des Wortes „einschneidenden“ Rat:

„Meine Zunge ist, während ich vom Nächsten spreche, wie das Messer in der Hand des Chirurgen, der zwischen Nerven und Sehnen schneidet. Der von mir beabsichtigte Schnitt muss so haargenau geführt werden, dass ich nicht mehr und nicht weniger sage, als wirklich an der Sache ist. Außerdem muss ich beim Tadeln eines Fehlers so viel wie möglich die Person dessen schonen, der ihn begangen hat.“ (DASal 1,182)

Also: Um der Gefahr zu entgehen, Richter über andere zu sein, soll ich immer sehr achtsam mit meinen Worten umgehen – und vor allem so viel als möglich die Personen schonen, um die es geht. Meine Zunge ist wie ein Skalpell … ein kleiner Ausrutscher kann viel Unheil anrichten. Ich glaube schon, dass es eine sehr heilsame Übung für die Fastenzeit sein kann, mich dabei einmal genau zu beobachten, wie ich mit meinen Worten umgehe, vor allem mit meinen Worten über andere. Und ich könnte es ja mal mit etwas Liebe versuchen, so wie Jesus, der selbst jene nicht verurteilte, die ihn kreuzigten, und dem Verbrecher neben ihm zusicherte: Noch heute wirst du bei mir im Paradies sein. Deshalb schreibt auch Franz von Sales: „Die Liebe ist das wirksamste Heilmittel gegen jedes Übel.“ Amen.

Herbert Winklehner OSFS