Predigt zum 3. Fastensonntag (Lk 13,1-9)
Gefangene besuchen: ein Werk der Barmherzigkeit
Es mag erstaunen, aber es ist so: Gefangene besuchen ist ein Werk der Barmherzigkeit. Das heißt: Jesus Christus identifiziert sich mit den Gefangenen in den Gefängnissen genauso, wie er sich mit den Hungernden, Dürstenden, Kranken, Nackten, Obdachlosen und Fremden identifiziert: „Ich war im Gefängnis,“ sagt er, „und ihr seid zu mir gekommen … Was immer ihr meinen Schwestern und Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,36.40)
Deshalb gehört die Gefängnisseelsorge genauso zu den Uraufgaben des Christentums wie Armenhilfe, Krankenseelsorge oder Gastfreundschaft.
Unser Pfarrpatron, der heilige Bischof Franz von Sales, hat jedenfalls die Gefangenenseelsorge in seiner Diözese sehr ernst genommen, so ernst, dass sie auch bei den Zeugenaussagen für seine Seligsprechung eine Rolle spielte. Dort heißt es, dass Franz von Sales die Gefangenen „häufig im Gefängnis aufsuchte“, ihnen ins Gewissen redete und Mut zusprach. Sobald er merkte, dass die Verurteilten Reue zeigten, bemühte er sich um Strafnachlass. „Es sind Heuchler“, warnte man ihn, Franz von Sales aber „fühlte die Ehrlichkeit ihrer Tränen“. „Bösewichter müssen gezüchtigt werden“, widersprach man ihm, er aber entgegnete: „Es ist besser, sie durch Güte zu bekehren, als mit Härte zu züchtigen.“
Der heilige Franz von Sales war nicht nur Seelsorger und Bischof, als promovierter Jurist war er auch staatlich anerkannter Anwalt und Richter. Nicht selten wurde er daher bei Gerichtsverfahren um Hilfe gebeten. Wen er merkte, dass ein Angeklagter Reue zeigte und bereit war, seine Straftat zu sühnen, tat er alles, um diesem Menschen die Chance eines Neuanfangs zu ermöglichen. Für ihn war das selbstverständlich, weil er wusste, dass auch Jesus Christus so mit den Sündern umging und selbst dem Mörder neben ihm am Kreuz die Zusage gab: „Noch heute wirst du bei mir im Paradies sein.“
Im heutigen Evangelium erzählte uns Jesus Christus das Gleichnis vom Feigenbaum, der Jahrelang keine Frucht bringt. Der Weinbergbesitzer will ihn umhauen … der Weingärtner jedoch sagt: „Gib ihm noch eine Chance“. Genau das meint auch dieses Werk der Barmherzigkeit: „Ich war im Gefängnis und du bist zu mir gekommen … du hast mich nicht aufgegeben, nein, du gabst mir noch einmal eine Chance.“
Vielleicht sind wir nicht in der Lage, tatsächlich Gefangene im Gefängnis zu besuchen, wir können allerdings immer darüber nachdenken, ob es in unserem Bekanntenkreis Menschen gibt, über die wir oder andere bereits ihr Urteil gesprochen haben, egal ob dieses Urteil gerechtfertigt war oder nicht. Und wir könnten uns fragen, ob wir sie nicht einmal besuchen und ihnen nicht doch noch eine Chance geben könnten. Vielleicht muss man sich ein wenig Mühe geben, so wie der Gärtner beim Feigenbaum, den Boden umgraben, auflockern und düngen. Vielleicht muss man sich wieder bewusst machen, dass wirklich jeder Mensch, egal wie schwer seine Vergehen, seine Fehler, seine Sünden waren und sind, dass jeder Mensch trotzdem ein von Gott einzigartig geliebtes Geschöpf ist und seine Würde hat. Die Goldene Regel der Bergpredigt lautet: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen“ (Mt 7,12). Wie möchte ich, dass man mit mir umgeht, wenn ich einmal einen schweren Fehler gemacht habe, wenn ich gefangen bin in meiner eigenen Schuld und aus diesem finsteren Loch nicht mehr herauskomme. Ich glaube, ich wäre unendlich dankbar, wenn mich dann ein Mensch besuchen käme und mir sagte: Ich gebe dir eine neue Chance und helfe dir, sie zu nützen.
Unser Pfarrpatron Franz von Sales kann uns bei diesem Werk der Barmherzigkeit ein großes Vorbild und ein großer Fürsprecher sein, denn so ist er mit den Menschen umgegangen: egal ob diese im Gefängnis saßen oder sonst irgendwie in ihren Fehlern und Schwächen gefangen waren: er war bereit ihnen eine neue Chance zu geben. Seine Überzeugung lautete: „Wer seinen Nächsten im unglückseligen Zustand der Sünde erblickt und nicht den Mut hat, ihm … die rettende Hand zu bieten, der übt eine sehr verkehrte Barmherzigkeit.“ Amen.
P. Herbert Winklehner OSFS