Predigt zum 2. Sonntag im Jahreskreis (Joh 1,29-34)

Der kategorische Imperativ des heiligen Franz von Sales

Johannes der Täufer ist quasi der biblische Prototyp, an dem wir erkennen können, was die Uraufgabe aller Christinnen und Christen ist. Nämlich: mit seiner ganzen Person auf Jesus Christus hinweisen und dadurch bezeugen: Jesus ist der Sohn Gottes, Christus der Herr. Das und nichts anderes ist unsere Aufgabe als Christen in dieser Welt.

Im Laufe der letzten vierhundert Jahre hat man sich immer wieder einmal die Frage gestellt, warum der heilige Franz von Sales bei den Menschen so gut angekommen ist. Warum sind sie gerade diesem Bischof nachgelaufen? Warum haben so viele mit dankbarer Begeisterung seine Briefe und Bücher gelesen und seinen Predigten zugehört? Einmal, in Paris, drängten sich sogar so viele Leute in die Kirche, dass Franz von Sales durch ein Fenster einsteigen musste, weil alle Eingänge verstopft waren. Einen solchen Andrang an Kirchenbesuch kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Was also faszinierte die Menschen an diesem Heiligen so besonders, dass sie ihm in Scharen nachgelaufen sind?

Eine Antwort liefert uns jene Frau, die ihn wahrscheinlich am besten von allen kannte: Johanna Franziska von Chantal. Sie sagte bei ihrer Zeugenaussage zum Seligsprechungsprozess, dass die Menschen von Franz von Sales deshalb so fasziniert waren, weil sie in der Begegnung mit ihm spürbar erleben konnten, wer Jesus Christus wirklich ist. Wörtlich sagte sie: „Franz von Sales war ein lebendiges Abbild unseres Herrn Jesus Christus.“

Also: Wer damals Franz von Sales begegnet ist, der hatte nach dieser Begegnung eine genaue Vorstellung davon, wie Jesus Christus auf Erden erlebt wurde. Franz von Sales tat mit seinen Worten, Gedanken und Handlungen also haargenau das, was Johannes der Täufer getan hat: Mit seiner ganzen Persönlichkeit hat er die Menschen auf Jesus Christus hingewiesen: „Seht das Lamm Gottes … er ist es … Für ihn lege ich Zeugnis ab: Er ist der Sohn Gottes.“

Es gibt übrigens von Franz von Sales sogar eine Tauben-Geschichte, die das bestätigt. Eines Tages feierte der Bischof in der Marienkirche seiner Bischofsstadt Annecy einen Vespergottesdienst, als plötzlich eine Taube in die Kirche hineingeflogen kam und sich genau auf die Schulter des heiligen Franz von Sales setzte. Für die Menschen, die das miterlebten, war damals völlig klar, dass das ein Zeichen dafür war, dass Gott diesen Franz von Sales als einen authentischen Zeugen seiner Botschaft bestätigte, genauso wie er damals am Jordan Jesus als seinen Sohn bestätigte als der Heilige Geist auf ihn in Form einer Taube herabkam.

Mit seiner ganzen Persönlichkeit Zeuge für Jesus Christus zu sein, das tat Johannes der Täufer und offenbar auch Franz von Sales – und das wäre eigentlich auch die grundlegende Aufgabe für alle, die Jesus Christus nachfolgen. Ich gebe durch mein Leben dieser Welt ein authentisches Zeugnis dafür, wer Jesus Christus ist, wie er gelebt und was er gelehrt hat, sodass jeder, der mir begegnet, nach dieser Begegnung wenigstens ein bisschen besser über Christus Bescheid weiß, ja spüren kann, wer dieser Jesus Christus ist.

Letztlich heißt genau das auch salesianisch leben – oder wenn man es philosophisch mit Immanuel Kant beschreiben will: das wäre der Kategorische Imperativ allen Handelns nach Franz von Sales. Und dieser salesianische kategorische Imperativ lautet: „Lebe so, dass durch dein Denken, Reden und Handeln die Menschen, denen du begegnest, erkennen: so ist Jesus Christus, der Sohn Gottes.“ Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS