Predigt zum 2. Sonntag im Jahreskreis (Joh 1,29-34)

Wüstenerfahrung

Die Wüste, eigentlich ein lebensfeindlicher Ort, ist in der Bibel sehr oft ein Ort der besonderen Gottesbegegnung und Gotteserkenntnis. Ich erinnere nur an Mose und den Dornbusch, oder an die Zehn Gebote am Sinai, oder an den Propheten Elija, der am Horeb Gott im leisen Säuseln erkannte.

Die Szene des heutigen Evangeliums findet ebenso in der Wüste statt. Das bedeutet: Wir haben es hier mit etwas Wesentlichem zu tun, mit einer besonderen Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis. Johannes der Täufer, der Rufer in der Wüste, sieht Jesus auf sich zukommen und erkennt in ihm den Sohn Gottes.

Dabei spielen drei Symbole oder Bilder eine besondere Rolle, die für Jesus Christus, und damit eben auch für unser Gottesbild entscheidend sind.

Das erste Bild ist das Lamm: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ Ein Bild der Sanftmut, des Friedens, der Versöhnung. Unser Gott ist kein brüllender Löwe, seine Macht und Größe zeigt sich in seiner Sanftheit und seiner Barmherzigkeit. „Gott zieht uns nicht mit eisernen Fesseln an sich wie Stiere und Büffel,“ so meint der heilige Franz von Sales, „sondern er wirbt um uns, er lockt uns liebevoll“ (DASal 3,129).

Das gilt auch für die Taube, die den Geist Gottes symbolisiert. Seit Noach und der Sintflut ist die Taube das Symbol des Friedens und der Versöhnung. Gott ist es, der Frieden schafft, sein Geist beendet Chaos und Zerstörung. Der Friede wird zum Zeichen dafür, dass sich der Geist Gottes erfüllt. „Ohne Zweifel,“ so predigte auch der heilige Franz von Sales, „war in der Arche Noachs die Freude sehr groß, als die Taube … mit dem Ölzweig im Schnabel zurückkam, als sicheres Zeichen dafür, … dass Gott der Welt wieder den Segen seines Friedens geschenkt hat“ (DASal 9,52).

Und schließlich noch das Wasser. Es ist nicht nur in der Wüste das kostbarste Gut. Es schenkt Leben. Der Jordan war und ist immer noch die Lebensader Israels. Hier geht es also um das Leben, um das Wasser, das Leben schenkt. Und genau dieses lebendige Wasser wird mit Jesus Christus in Verbindung gebracht. Wer sich taufen lässt, wird mit Leben erfüllt. „Durch die Taufe“, so schreibt der heilige Franz von Sales, „hat Jesus … uns mit unvergleichlicher Liebe Nahrung für Herz und Leib gegeben, … um uns das Leben zu erwerben“ (DASal 4,56).

Mit diesen Bildern, die uns da in der Wüste gezeigt werden, erfahren wir für unseren Glauben wirklich Wesentliches: Johannes der Täufer bezeugt Jesus Christus als den Sohn Gottes, der sich uns als Lamm offenbart, auf den der Geist Gottes als Taube herabkommt und uns das Wasser des Lebens schenkt. Wir glauben also an einen Gott der Sanftmut und Barmherzigkeit, des Friedens und der Versöhnung. Wer sich ihm anvertraut und ihm nachfolgt, dem wird das Leben geschenkt, das Leben in Fülle.

Alles andere, so können wir daraus folgern, ist nicht Gott und hat mit unserem Glauben nichts zu tun. Heilige Kriege, egal ob im Großen oder Kleinen, sind nicht Gott. Despotischer Machtmissbrauch, egal ob im Großen oder Kleinen, ist nicht Gott … und alles Lebensverachtende, egal ob im Großen oder Kleinen, sowohl gegen den Menschen als auch gegen die Natur hat mit Gott nichts zu tun. Wofür Johannes der Täufer Zeugnis gibt, das ist der Gott der Sanftmut und Barmherzigkeit, des Friedens und der Versöhnung und des Lebens in Vollendung. Diesem Gott, der sich in Jesus Christus offenbarte, folgen wir. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS