Predigt zum 2. Sonntag der Osterzeit (Joh 20,19-31)

Der unbegreifliche Gott

Gerne erklären wir uns mit dem Apostel Thomas solidarisch. Seine Zweifel sind verständlich und nachvollziehbar. Wenn ich nicht mit eigenen Augen sehen und mit meinen Händen spüren kann … glaube ich nicht. Meine Zweifel sind einfach zu groß.

Es gibt im Leben immer wieder Anlässe und Gründe, durch die unser Glaube ins Wanken gerät. Wie kann Gott, der doch die Liebe ist, so etwas zulassen, was hat das Ganze für einen Sinn, warum so viel Leid und Elend? Und der Glaube an eine Auferstehung nach dem Tod oder ein Ewiges Leben, das ist ohnehin immer die größte Herausforderung, vor allem dann, wenn man dem für jeden Menschen unausweichlichen Tod ins Auge blicken muss. Da täte ein konkreter Beweis wie beim Apostel Thomas schon gut.

Die heilige Johanna Franziska von Chantal ist ein Beispiel für all diese Erfahrungen mit dem so oft unbegreiflichen Gott. In dieser Heiligen begegnen wir einem Menschen, der im Leben sehr viel Leid erfahren musste und gerade deshalb immer wieder von Glaubenszweifeln und Glaubensdunkelheiten geplagt wurde.

Die heilige Johanna Franziska von Chantal war eine glückliche Mutter von vier heranwachsenden Kindern, lebte in einem Schloss in Burgund in Frankreich, liebte ihren Ehemann Christoph und wurde von ihm geliebt. Es war eine Ehe und eine Familie, wie man es sich eigentlich wünscht und erträumt. Und dann, nach neun glücklichen Ehejahren, geschieht die große Katastrophe: Ihr Ehemann Christoph wird bei einem Jagdunfall tödlich verwundet. Einige Tage kämpft er um sein Leben. Doch er schafft es nicht. Er stirbt in den Armen Johannas, die davor noch verzweifelt zu Gott betete: „Mein Gott, nimm mir alles, was ich auf der Welt habe, aber lasse mir meinen geliebten Ehemann.“ Ihr Gebet wird nicht erhört. Für die 29-jährige Johanna bricht eine Welt zusammen. Von einem Tag auf den anderen ist sie Witwe, alleinerziehende Mutter von vier Kindern, von denen das älteste erst fünf Jahre alt ist. Im Gegensatz zum Apostel Thomas erfährt sie allerdings in dieser tragischen Situation kein Verständnis. Da ist kein Jesus, der zu ihr in ihr Schloss kommt und sagt: Komm her, schau mich an, berühre mich – dann sei nicht mehr ungläubig, sondern gläubig. Im Gegenteil: Sie gerät an einen Priester, der ihre Situation überhaupt nicht versteht und durch seine frommen Ratschläge alles noch viel schlimmer macht.

Erst als Johanna drei Jahre nach dem Tod ihres Ehemannes dem heiligen Franz von Sales begegnet, erfährt sie das, was auch der Apostel Thomas in seinen Zweifeln und Verzweiflungen erlebt. Wie Jesus nimmt Franz von Sales das Leid und die Zweifel Johannas ernst. Er hört ihr zu, gibt nicht gleich alle möglichen frommen Antworten, sondern geht auf sie ein und schenkt ihr auf diese Weise seiner sensiblen geistlichen Begleitung neuen Lebensmut. Franz von Sales kann ihr den toten Ehemann nicht mehr zurückbringen. Er schafft es allerdings, dass sie wieder Sinn in ihrem Leben sieht und auch Gott, an dessen Liebe sie zweifelte, wieder vertrauen kann, sodass sie wie der Apostel Thomas wieder beten lernt: „Mein Herr und mein Gott“.

Für unser eigenes Leben können wir vom Apostel Thomas und von der heiligen Johanna Franziska von Chantal Folgendes lernen:

Erstens: Zweifel sind erlaubt. Ich darf Gott sagen, dass ich ihn nicht verstehe, dass er mir unbegreiflich ist.

Zweitens: Wer von Zweifeln und Glaubensdunkelheiten geplagt wird, dem tut es gut, jemanden zu haben, bei dem er sich aussprechen kann, von dem er ernst genommen wird.

Und drittens: Trotzdem glauben. Weder der Apostel Thomas noch Johanna Franziska von Chantal wurden aufgrund ihrer tragischen Erlebnisse zu Atheisten. Sie wählten den Weg des „Trotzdem Glaubens“, auch wenn ich Gott nicht verstehe. Atheismus ist nicht die Lösung, sondern das Festhalten am unbegreiflichen Gott – trotz allem. Amen.

P. Herbert Winklehner OSFS