Johannes Paul I. und Franz von Sales

Zwei Seelenverwandte

Am 4. September 2022 wurde Albino Luciani (1912-1978), bekannt als der 33-Tage-Papst Johannes Paul I. von Papst Franziskus seliggesprochen. Dieser neue Selige war seit seiner Jugend ein großer Verehrer des heiligen Franz von Sales. Er war sein Vorbild, von dem er sich später bei seinen vielfältigen Tätigkeiten im Dienst der Verkündigung und Seelsorge als Priester, Theologe, Bischof und Kardinal von Venedig leiten ließ. Gleich nach seiner Papstwahl ließ er sich die Werke des heiligen Franz von Sales von seiner Bischofsstadt Venedig nach Rom bringen. Es wundert daher nicht, dass er gerade durch sein herzliches Auftreten als „lächelnder Papst“ nicht nur die katholische, sondern die ganze Welt im Sturm eroberte. Wie sein heiliges Vorbild wollte er den Menschen in seinen Begegnungen, Ansprachen und Predigten die Liebe Gottes spüren lassen. In einem fiktiven Brief, den er als Erzbischof an seinen „liebenswürdigen Heiligen“ schrieb, beschreibt er vorwiegend die Herzensgüte, die Einstellung zur Gottes- und Nächstenliebe und das rechte Maß des Frömmigkeitslebens, das der heilige Franz von Sales besonders in seinen Büchern „Anleitung zum frommen Leben (Philothea)“ und „Abhandlung über die Gottesliebe (Theotimus)“ darlegte. Einmal charakterisierte er Franz von Sales als „vielleicht der größte Seelenführer, den die Kirche je hervorgebracht hat“.

Wie die Mutter zu ihrem Kind

Viele Aussagen, die Johannes Paul I. hinterließ, atmen den Geist des heiligen Franz von Sales. Bei einer seiner ersten Ansprachen nach seiner Papstwahl zum Beispiel sagte Johannes Paul I.: „Wir sind das Ziel der unvergänglichen Liebe Gottes; das wissen wir. Er hat immer seine Augen über uns, auch wenn es uns Nacht scheint. Er ist unser Vater; mehr noch, er ist uns auch Mutter … Wenn die Kinder krank sind, haben sie ein größeres Recht, von der Mutter geliebt zu werden.“ Dieser Gedanke erinnert an eine Aussage über die Liebe Gottes, die Franz von Sales im Theotimus formuliert: „Wenn eine besorgte Mutter mit ihrem kleinen Kind ausgeht, so hilft sie ihm und stützt es, wie das Kind es braucht. Auf ebenen, ungefährlichen Wegen lässt sie das Kind einige Schritte allein gehen, dann nimmt sie es wieder an der Hand und hält es fest oder nimmt es auf den Arm und trägt es. So verfährt auch der Herr mit unserer Seele. Unaufhörlich ist er um jene besorgt, die seine Kinder sind. Bald lässt er sie gleichsam vor sich hergehen, ihnen bei Schwierigkeiten die Hand reichend, bald trägt er sie durch Müh und Leid hindurch, die ihnen sonst unerträglich wären“ (DASal 3,172).

Oder ein anderes Zitat von Johannes Paul I.: „Konzentrieren wir uns also auf zwei Tugenden, die wir uns aber zur Gewohnheit machen müssen: die Demut und die Liebe. Diese Tugenden sollten wir mit gelassener Heiterkeit üben.“ Hier finden sich drei wesentliche salesianische Tugenden wieder: Demut, Liebe und Gelassenheit. „Wir müssen diese teuren Tugenden ganz kraftvoll festhalten“, schreibt Franz von Sales an Johanna Franziska von Chantal, „die Sanftmut gegen den Nächsten und die sehr liebenswerte Demut Gott gegenüber“ (DASal 5,408). Und in einem weiteren Brief: „Es ist besser, alles mit Gelassenheit und Ruhe aufzunehmen“ (DASal 5,403).

Setze der Liebe keine Schranken

Die Worte, die Papst Franziskus bei der Seligsprechung von Johannes Paul I. fand, hätten genauso eine Predigt über Franz von Sales sein können. Papst Franziskus sagte: „Wir müssen vom Gekreuzigten lernen, was es bedeutet zu lieben. Dort sehen wir die Liebe, die sich ganz hingibt, ohne Maß und ohne Grenzen. Die Liebe kennt kein Maß. ‚Wir sind‘, sagte Papst Johannes Paul I., ‚das Ziel der unvergänglichen Liebe Gottes‘. Sie ist unvergänglich: Sie versagt sich nie unserem Leben, sie leuchtet uns und erhellt selbst die dunkelsten Nächte. Und so sind wir mit Blick auf das Kreuz aufgerufen, dieser Liebe gerecht zu werden.“ Für Franz von Sales war der Kalvarienberg, also jener Ort, an dem Jesus Christus gekreuzigt wurde, der Ort der „Hochschule der Liebe“ (DASal 4,315). Und seinen Schwestern der Heimsuchung Mariens sagte er: „Wir können die Mitmenschen nie zu viel lieben und somit auch in der Liebe nie die Grenzen der Vernunft überschreiten, sofern die Liebe wirklich im Herzen wurzelt. Der glorreiche hl. Bernhard sagt: ‚Das Maß der Liebe zu Gott ist Liebe ohne Maß.‘ Und weiter sagt er: Setze der Liebe keine Schranken, lasse sie ihre Äste breiten, so weit sie nur kann. Was für die Gottesliebe gilt, das gilt auch für die Nächstenliebe“ (DASal 2,66-67).

Der herzliche heilige Franz von Sales und der lächelnde selige Papst Johannes Paul I. waren zwei Seelenverwandte, die die Liebe Gottes vermitteln wollten. Es ist mehr als ein schöner Zufall, dass Johannes Paul I. gerade in jenem Jahr seliggesprochen wurde, in dem die salesianische Welt des 400. Todestages des heiligen Franz von Sales gedenkt.

P. Herbert Winklehner OSFS